Schule während der Corona-Pandemie – Erfahrungen von TraMiS-Schulen im Sommerhalbjahr
Als wir Anfang März zu einem Workshop mit 40 Beteiligten aus Deutschland, Italien, Kanada, den USA und Schweden zusammengekommen sind, war zwar die Ausbreitung des Coronavirus ein Gesprächsthema am Rande, aber mit bundesweiten Schulschließungen knapp zwei Wochen später hat zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch niemand gerechnet.
Wie haben TraMiS-Schulen die Schließungen erlebt? Wie wurde der Unterricht während des Lockdowns organisiert? Und konnten überhaupt alle Schüler*innen erreicht werden? Wir haben mit einigen Schulleiter*innen und Lehrkräften unserer Partnerschulen gesprochen. Es wird deutlich, dass die Pandemie an die verschiedenen Schulen mit ihren unterschiedlichen Ausgangslagen ganz unterschiedliche Herausforderungen stellt.
VOR DEM VIRUS SIND NICHT ALLE GLEICH
Zwar sind alle Menschen von dieser sich global ausbreitenden Pandemie potenziell betroffen, es verfügen aber nicht alle über dieselben Ressourcen, mit ihren Folgen umzugehen. Um dieser ungleichen Betroffenheit zu begegnen, wurde etwa von Bildungsexpert*innen gefordert, bei der schrittweisen Öffnung von Schulen vorrangig sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche zu berücksichtigen. Dass das Virus nicht alle in gleicher Weise trifft, zeigt sich auch bei den TraMiS-Kooperationsschulen.
Die Europäische Schule Karlsruhe konnte unmittelbar nach dem Lockdown den regulären Unterricht nach Stundenplan und mit Anwesenheitskontrolle digital fortsetzen. Die Schule konnte sich besonders schnell auf den digitalen Unterricht einstellen, weil fast alle Schüler*innen bereits zuvor über die notwendige Technik verfügten. Den Übrigen wurden Geräte von der Schule gestellt. Alle Lehrkräfte haben kurz vor der Schließung eine Basisschulung am Wochenende erhalten. Junge Kolleg*innen haben ältere unterstützt. Die ausgeprägte Serviceorientierung gegenüber den Eltern an der hierarchisch und zentralisiert geführten Europäischen Schule hängt auch damit zusammen, dass 80 Prozent ein hohes Schulgeld zahlen, die notwendigen Ressourcen daher vorhanden sind und Ansprüche der Eltern pro-aktiv vorgebracht werden.
DIGITALE ERREICHBARKEIT EINGESCHRÄNKT
Für die Herbert-Grillo-Gesamtschule in Duisburg-Marxloh bestand die Herausforderung zunächst darin, alle Schüler*innen zu erreichen und sie mit Lernmaterial zu versorgen. „Von einem digitalen Unterricht zu sprechen ist übertrieben“, resümiert der Schulleiter die Erfahrungen rund um die Schließung der Duisburger Gesamtschule. Er schätzt, dass etwa 70 Prozent der Schüler*innen nicht über einen Laptop oder ein Tablet verfügten. Außerdem fehle es in einigen Familien an Internetzugängen und ausreichendem Datenvolumen – die Grundvoraussetzung für digitales Lernen. Um die Schüler*innen trotzdem mit Lernmaterial zu versorgen, wurden Materialpakete an der Schule ausgegeben.
Ähnlich die Lage an der Schule am Ernst-Reuter-Platz in Bremerhaven. Trotz der Verteilung von Materialpaketen an der Schule, konnten nicht alle Lernenden erreicht und zum selbstständigen Arbeiten motiviert werden. Die Gespräche machen aber auch deutlich, dass es nicht nur auf Seite der Familien an digitaler Infrastruktur und umfassenden Schulungen gefehlt hat.
DIGITALE INFRASTRUKTUREN IM AUFBAU
Ein flächendeckend ausgebautes WLAN, ausreichend Tablets und Laptops, Beamer und Projektionsflächen in den Lernräumen sind nicht an allen Schulen vorhanden. Ein Schulleitungsmitglied der Gesamtschule Leverkusen-Schlebusch führt die schlechte Ausstattung indirekt auch auf den „Digitalpakt Schule“ zurück: „Die Kommunen haben Investitionen zurückgestellt und auf das Geld vom Bund gewartet.“
Zwar berichten die TraMiS-Schulen von einer Vielzahl unterschiedlicher digitaler Lernplattformen, mit und ohne integrierten Möglichkeiten für Videokonferenzen, allerdings wurden diese bis zum Zeitpunkt des Lockdowns selten genutzt. Der Dresdner Oberschule „Johannes Gutenberg“ etwa steht seit 2014 die Onlineplattform „LernSax“ zur Verfügung. Die Einbindung in den Schulalltag wurde vom Landesministerium bisher aber wenig gefördert, so die Schulleiterin. In der Coronakrise wurden zusätzliche Weiterbildungsangebote durch das Bundesland angeboten.
DIDAKTISCHE HERAUSFORDERUNGEN UND CHANCEN
„Es fehlte aber nicht nur an Technik, sondern auch an pädagogischen Konzepten, wie Aufgaben für Zuhause strukturiert sein müssen“, betont die Schulleiterin der Dresdner Oberschule. Auch wenn inzwischen dazugelernt wurde, gibt es ihrer Auffassung nach immer noch Nachholbedarf bezüglich didaktischer Fragen zum Distanzunterricht.
Eine Frage ist zum Beispiel, wie Lehrkräfte den Schüler*innen Feedback zu ihren Arbeitsergebnissen geben. Am Anfang wurden viel häufiger individuelle Rückmeldungen gegeben als im Präsenzunterricht. Später haben Lehrkräfte vermehrt andere Formen des Feedbacks wie Musterlösungen, gemeinsame Besprechungen und exemplarische Korrekturen genutzt. Eine Lehrerin vom Aachener Couven Gymnasiums weist darauf hin, dass Schüler*innen die individuellen Rückmeldungen toll fanden, dass die Arbeitsbelastung aber auf Dauer sehr hoch gewesen sei.
Am Ratsgymnasium Minden hatten die Lehrkräfte in der ersten Phase der Vollschließung weitgehend freie Hand, den Unterricht zu gestalten. Einigen Lehrkräften sei es allerdings schwergefallen, die Anweisung, nur positives Feedback zu geben, umzusetzen, berichtet die Schulleiterin.
Die neuen Unterrichts- und Lernformate bieten auch Chancen. So wird aus den Schulen berichtet, dass einige Schüler*innen rückmeldeten, sie hätten es als positiv empfunden, ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend lernen zu können. Es wurde beobachtet, dass sich auch sonst eher zurückhaltende Schüler*innen aktiver beteiligten.
REFORMPÄDAGOGISCHE ANSÄTZE IM VORTEIL
Die Erfahrungen der TraMiS-Schulen mit der Corona- Pandemie zeigen ein ambivalentes Bild: Während der Lockdown die Schulen zumeist völlig unvorbereitet getroffen hat, wird vielfach deutlich, dass der improvisierte Umgang mit der Krise auch zu kreativen Ideen und neuen Denkweisen geführt hat. Mit alternativen Formen des Lernens und der Schulorganisation haben reformpädagogisch orientierte Schulen schon vor der Pandemie experimentiert.
„Wir sind mit einem großen Vorteil in die Corona-Zeit gegangen“, ist ein Lehrer der Offenen Schule Köln überzeugt. „Durch unser Baustein-Prinzip waren die Schüler*innen schon an das Selbstlernen gewöhnt“. An der staatlich anerkannten Privatschule ist individuelles und eigenverantwortliches Lernen Teil des regulären Programms. Unterstützt wird das Selbstlernen in den Hauptfächern normalerweise durch Fachlehrkräfte in den sogenannten Fachbüros. Dieser Input wurde während der Schulschließung per Videokonferenz oder individuell am Telefon gegeben. Lehrkräfte waren täglich sechs Stunden in Bereitschaft und konnten von Schüler*innen kontaktiert werden.
Auch die Gesamtschule Leverkusen-Schlebusch, an der seit einigen Jahren mit offenen Unterrichtsformen in den Hauptfächern gearbeitet wird, konnte diese Erfahrungen nutzen. Während des Lockdowns wurde in den Fächern Mathematik, Englisch und Deutsch mit Materialien aus den „Individuellen Lernzeiten“ gearbeitet.
SCHULE ALS RAUM FÜR SOZIALE KONTAKTE FEHLTE
Während die Pandemie zu neuen Erfahrungen mit Digitalisierung und didaktischen Ansätzen geführt hat, war allerdings der soziale Austausch an den Schulen in der Regel massiv eingeschränkt. Um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern, wurden Schüler*innen nach Ende der Schulschließung nach Jahrgängen getrennt und mit Einschränkungen unterrichtet.
Zum Beispiel am Bremer Alexander-von-Humboldt-Gymnasium: Der Schulhof ist in Zonen aufgeteilt und einzelne Schüler*innengruppen betreten das Gebäude gemeinsam mit einer Lehrkraft. Bis auf eine große Pause müssen die Schüler*innen in ihren Klassen bleiben.
DEUTSCHLERNENDE BESONDERS BETROFFEN
Mehrere Schulen berichten, dass Deutschlernende von den Corona-Beschränkungen besonders betroffen sind. Bei ihnen fehlen besonders häufig digitale Geräte und ein leistungsfähiges WLAN. Gerade für Zuwander*innen, die Deutsch lernen, sei der Präsenzunterricht wichtig und könne nicht einfach durch digitale Formate ersetzt werden. Mehrere Schulen haben daher versucht, Deutschlernende so früh wie möglich wieder in die Schule zu holen. So wurden Einzelne an der Offenen Schule Köln in die Notbetreuung aufgenommen oder an der Anne-Frank-Schule in Bargteheide auch Deutschlernklassen mit Unterstützung von engagierten Kolleg*innen vorzeitig in den Präsenzunterricht zurückgeholt. Der teilintegrative Unterricht stellte zum Beispiel das Aachener Couven Gymnasium nach Ende des Lockdowns vor Probleme. Wenn aus jahrgangsübergreifenden „Internationalen Klassen“ Schüler*innen stundenweise am Unterricht von Regelklassen unterschiedlicher Jahrgänge teilgenommen hätten, wären die Kohorten gemischt und dadurch das Infektionsrisiko erhöht worden. Deshalb wurde der Unterricht auf die Deutschlernklassen beschränkt.
INTERNATIONALE AUSTAUSCHE NUR VERSCHOBEN?
Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus haben auch zu massiven Einschränkungen des internationalen Reiseverkehrs geführt. Schüler*innenaustausche mussten an vielen Schulen abgesagt werden. Eine Lehrerin der Anne-Frank-Schule berichtet von einem ausgefallenen Austausch mit einer Schule auf Mallorca, der nach Möglichkeit nachgeholt werden soll. Eine Lehrerin des Couven Gymnasiums befürchtet, dass die derzeitigen Mobilitätseinschränkungen langfristige Auswirkungen auf internationale Austauschprojekte haben werden.
BILINGUALES PROGRAMM IN EINER GRENZREGION MIT MÜHE GERETTET
Bereits in diesem Jahr hat besonders das Augustum-Annen-Gymnasium in der Grenzstadt Görlitz die Einschränkungen zu spüren bekommen. Die Schule mit ihrem bilingualen Profil wird sowohl von deutschen als auch von polnischen Schüler*innen aus der angrenzenden Stadt Zgorzelec besucht. Bei der teilweisen Öffnung der Schule nach dem Lockdown hat es viele Erkundigungen und Verhandlungen gebraucht, bis polnische Schüler*innen trotz geschlossener Grenze einreisen durften, ohne in Quarantäne gehen zu müssen. Während der Abiturphase wurden sie bei Familien in Görlitz untergebracht, berichtet die Schulleiterin.
CORONA ALS KATALYSATOR FÜR SCHULENTWICKLUNG
„Corona hat die Schwachstellen des deutschen Schulsystems aufgezeigt“, so die Schulleiterin der Dresdner Oberschule „Johannes Gutenberg“. Viele Schulen hatten zumindest in der ersten Phase der Coronakrise weitgehend freie Hand, individuell auf die Anforderungen zu reagieren und mit eigenen Ideen zu experimentieren.
Ein Beispiel aus Dresden: Statt der herkömmlichen 45-minütigen Schulstunde – übrigens ein preußisches Relikt aus dem Jahr 1911 – wurde im Zuge des eingeschränkten Unterrichts eine 60-Minuten-Taktung eingeführt. Das längere Arbeiten in einer Lerngruppe wurde von Lehrkräften und Schüler*innen als Entlastung empfunden. Laut der Schulleiterin gab es sogar weniger Krankmeldungen im Kollegium.
In der Notlage der Pandemie wurde experimentiert, die digitale Infrastruktur zumindest ansatzweise weiterentwickelt und eine Vielzahl von Weiterbildungen durchgeführt, sodass die Schulen auf einen erneuten Lockdown – und den hatten einzelne Schulen inzwischen für einzelne Jahrgänge – zumindest etwas besser vorbereitet sind. Aber auch bei einer vollständigen Rückkehr in den Präsenzunterricht werden voraussichtlich digitale Lernformen in Zukunft stärker genutzt, weil sie jetzt in den Köpfen präsenter sind.
Einige der Neuerungen stellen die „Grammatik der Schule“[1] infrage. Vermeintliche Selbstverständlichkeiten, wie etwa der preußische Erlass zur 45-minütigen Schulstunde, werden hinterfragt und durch zeitgemässere Modelle ersetzt. Diesen Transformationsprozess beschreiben die Bildungswissenschaftlerinnen Sliwka und Klopsch als „disruptive Innovation“. Es gelte, „die Gunst der Stunde […] für eine längst überfällige Modernisierung […] zu nutzen […], dass sich ‘Schulen der Industriegesellschaft’ endlich zu ‘Schulen der digitalen Wissensgesellschaft’ transformieren.“[2]
[1] Tyack, David/Tobin, William (1994): The „Grammar” of Schooling. Why Has it Been so Hard to Change? In: American Educational Research Journal, 31 (3). S. 453–479
[2] Sliwka, Anne/Klopsch, Britta (2020): Disruptive Innovation! Wie die Pandemie die „Grammatik der Schule” herausfordert und welche Chancen sich jetzt für eine „Schule ohne Wände” in der digitalen Wissensgesellschaft bieten. In: DDS – Die Deutsche Schule – Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, Beiheft 16, S. 225.
Ein Beitrag von:
Torben Dittmer
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt TraMiS
Nieki Samar
Studentische Hilfskraft im Projekt TraMiS