Transnationale Mobilität an Schulen – Ein Lehrerkollegium diskutiert Entwicklungsbedarfe für die schulische Praxis
Pünktlich zum Beginn der letzten Projektphase wurde dem Forschungsteam von TraMiS im Rahmen einer schulinternen Fortbildung an der Gesamtschule Leverkusen-Schlebusch (GLS) die Gelegenheit gegeben, erste vorläufige Forschungsergebnisse zum Umgang mit transnationaler Migration und Mobilität an einer der zwölf Kooperationsschulen des Projektes vorzustellen und diese mit Expert*innen aus der Praxis zu diskutieren.
Die Fortbildung wurde gemeinsam mit dem Schulleiter Bruno Bermes und dem didaktischen Leiter Andreas Brenken konzipiert und vor Ort organisiert: „Ziel war es, die Kolleginnen und Kollegen für das Thema der transnationalen Mobilität zu sensibilisieren“ – so Andreas Brenken. Im Rahmen der Fortbildung wurde folglich einen Tag lang mit ca. 100 Lehrerinnen und Lehrern in der Aula der GLS über die aktuellen Herausforderungen von transnationaler Mobilität der Schüler*innen für Schulen und daraus resultierende Entwicklungsbedarfe für die schulische Praxis gesprochen.
TRANSNATIONALE MOBILITÄT ALS PERMANTENTES PHÄNOMEN BEGREIFEN
Bereits der in die Thematik einführende Impulsvortrag von Yasemin Karakaşoğlu, einer der beiden Projektleiterinnen von der Universität Bremen, sorgte für eine angeregte Diskussion mit dem Kollegium über die praktische Umsetzbarkeit einer umfassenden, unterschiedliche Aspekte von Mobilität berücksichtigenden Schulentwicklung. Gilt es doch, ganz im Sinne des Forschungsprojektes, den institutionellen Umgang von Schulen mit transnationaler Mobilität zu untersuchen, da alle Schülerinnen und Schüler zunehmend von internationalen Erfahrungen geprägt sind. Während neuzugewanderte Kinder und Jugendliche in die Schulen aufgenommen werden, verlassen andere die Schulen dauerhaft oder zeitweise, um beispielsweise einen Teil ihrer Schulzeit im Ausland zu verbringen. Die Relevanz der Thematik verdeutlichte Prof. Karakaşoğlu: „Wir brauchen ein gesellschaftliches Wir, an dem alle gleichermaßen teilhaben können. Transnationale Mobilität muss als permanentes Phänomen verstanden werden, für das Schulen eine große Verantwortung tragen“. Weil transnationale Mobilität nicht als temporäre Erscheinung, sondern als permanente Aufgabe im Kontext von Schule gedacht werden muss, stellt die Förderung und Nutzung von Mehrsprachigkeit – sowohl im schulischen Alltag, als auch im Unterricht – eine zentrale Aufgabe dar.
VORLÄUFIGE FORSCHUNGSERGEBNISSE ZEIGEN DIE FEHLENDE BERÜCKSICHTIGUNG VON MEHRSPRACHIGKEIT AN SCHULEN
Zu den vorläufigen Forschungsergebnissen gehört, dass mobilitätsbedingte Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext bislang nur unzureichend berücksichtigt wird. Auch dadurch stellt das Erreichen eines Schulabschlusses an deutschen Regelschulen insbesondere für neuzugewanderte Kinder und Jugendliche eine große Herausforderung dar. So werden diese Schülerinnen und Schüler nicht nur in Leverkusen, sondern deutschlandweit zunächst in separaten Deutschlernklassen unterrichtet, die z.B. als Internationale Vorbereitungsklassen bezeichnet werden. Dort liegt der Fokus nicht auf fachlichem Lernen, sondern auf dem Lernen von Deutsch als Zweitsprache. Die logische Konsequenz ist eine im Zeitverlauf zunehmende Diskrepanz der fachlichen Kompetenzen zwischen den Lernenden in den Regelklassen und den Lernenden in den Deutschlernklassen. Projektergebnisse zeigen zudem, dass die Herkunftssprachen dieser Schülerinnen und Schüler in der Regel nicht offiziell im Rahmen schulischer Leistungen anerkannt werden. Als Konsequenz müssen die neuzugewanderten Kinder und Jugendlichen – neben der deutschen Sprache – gleichzeitig mindestens eine weitere Fremdsprache erlernen. Im Projekt TraMiS werden unter anderem mit Bezug auf den Aspekt Mehrsprachigkeit Handlungsoptionen auf schulischer und politischer Ebene entwickelt, wie das Schulsystem mehr Zugewanderte zu einem erfolgreichen Abschluss führen könnte. Solche Ideen wurden anhand von Fallbeispielen, wie dem folgenden Fall, in Gruppen mit den Lehrerinnen und Lehrern der GLS diskutiert und anschließend im Plenum vorgestellt.
GRUPPENDISKUSSION AUF DER BASIS VORLÄUFIGER PROJEKTERGEBNISSE
Der Fall von Amir (15) ist eines von zwei Fallbeispielen, die als Grundlage für die Gruppendiskussion dienten:
Amir (15) hat in Afghanistan sechs Jahre lang die Schule besucht. Nach längerer Flucht ist er vor einem Jahr ohne seine Eltern in Deutschland angekommen. Er lebt in einer Unterkunft mit anderen Jugendlichen. Er will unbedingt einen Schulabschluss schaffen und eine Ausbildungsstelle finden, weil er sich dadurch bessere Bleibechancen erhofft. Amir lernt schnell und konzentriert, kommt aber in einigen Fächern nicht mit.
Welche Entwicklungsmaßnahmen dazu beitragen würden, um die Benachteiligungssituation von Kindern und Jugendlichen wie Amir an der GLS aufzuheben, stellte eine zentrale Leitfrage für die Gruppendiskussion dar. Der intensive und produktive Ideenaustausch der Lehrkräfte in der Gruppenarbeitsphase, führte anschließend zu zahlreichen Wortmeldungen im Plenum und einer angeregten Diskussion zu der Praktikabilität der vorgebrachten Ideen im Kollegium. Dadurch konnten unterschiedliche Möglichkeiten, Grenzen aber auch Entwicklungsbedarfe für die schulische Praxis herausgearbeitet werden.
IDENTIFIZIERTE ENTWICKLUNGSBEDARFE FÜR SCHULEN
Zu den Entwicklungsbedarfen, die die Lehrer*innen sehen, gehört insbesondere die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit im Curriculum, nach Fachunterricht für Neuzugewanderte Kinder und Jugendliche von Anfang an sowie nach einem Zusammendenken von Mehrsprachigkeit und Digitalisierung.
Mehrsprachigkeit ins Curriculum
Auf struktureller Ebene bräuchte Mehrsprachigkeit, so eine Erkenntnis aus der kollegialen Diskussion, nicht nur einen Platz in der Schule, sondern auch im Curriculum. Mehrsprachig aufgewachsene Kinder sollten in der Schule die Möglichkeit bekommen, ihre sprachliche Kompetenz in der Familiensprache weiter zu entwickeln – auch wenn diese dort nicht als Fremdsprache angeboten wird. „Dies kann eine einzelne Schule nicht für jede Sprache leisten, das ist ganz klar, aber für sprachliche Großgruppen wie beispielsweise Russisch ist dies auf jeden Fall auf kommunaler Ebene denkbar“ – so eine Lehrerin der GLS. „Für kleinere sprachliche Gruppen kann ich mir zentral angebotene und flexibel abrufbare Online-Sprachkurse sehr gut vorstellen, die schul- und vielleicht sogar länderübergreifend angeboten werden“, ergänzte sie mit Blick auf die damit verbundenen Möglichkeiten der individuellen Förderung weiter. Damit schulischer Erfolg für Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache möglich werden kann, kam zudem der Vorschlag, die Schulzeiten für die Kinder und Jugendlichen flexibler zu gestalten, indem ihnen bei Bedarf mehr Zeit für das Erreichen ihrer Bildungsziele im Rahmen der Regelschule zugestanden wird.
Fachunterricht von Anfang an
Im Laufe der Fortbildung wurde von verschiedenen Lehrpersonen zudem immer wieder eine sofortige Eingliederung von neuzugewanderten Schülerinnen und Schülern in die Regelklassen gefordert, um ein gemeinschaftliches schulisches Wir – als Vorstufe des gesellschaftlichen Wir’s – überhaupt erreichen zu können. Damit neuzugewanderte Schülerinnen und Schüler jedoch direkt in die Regelklassen integriert werden können, seien unbedingt zusätzliche Ressourcen erforderlich. Insbesondere wurde der Bedarf an Personal ausgesprochen, das über Kenntnisse in den Herkunftssprachen von neuzugewanderten Schülerinnen und Schülern verfügt. So könnte den Kindern und Jugendlichen innerhalb der Regelklassen individuelles Unterstützungspotenzial bereitgestellt werden und ein Lernen von- und miteinander ermöglicht werden. Aber auch finanzielle Mittel seien nötig, um beispielsweise digitale Wörterbücher flächendeckend für Schulen anschaffen zu können.
Mehrsprachigkeit und Digitalisierung zusammendenken
Dass insbesondere die zunehmende Digitalisierung ein hohes Potenzial für die Förderung von Mehrsprachigkeit im Schulalltag bietet, hat bereits die Forderung von (länderübergreifenden) Online-Sprachkursen gezeigt. So könnten auch Sprachen, die durch eine geringe Anzahl an Sprecher*innen gekennzeichnet sind, im Unterricht gelehrt und gelernt werden und gesellschaftliche Anerkennung erfahren. Schülerinnen und Schüler würden so schließlich die Möglichkeit bekommen, ihre sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten auch in der eigenen Herkunftssprache weiter auszubauen. Auch wurde die Forderung nach digitalen Übersetzungsmedien nicht nur für den Fremdsprachenunterricht, sondern für alle Fächer gestellt: „Schülerinnen und Schüler, die Deutsch als Zweitsprache lernen, arbeiten in den Klassenarbeiten des 21. Jahrhunderts immer noch mit gedruckten Wörterbüchern. Dabei geht so viel Zeit und Konzentration verloren, dass digitale Wörterbücher hier bereits eine enorme Hilfe darstellen würden.“ Das erforderliche Zusammendenken von Digitalisierung und Mehrsprachigkeit stellt somit eine zentrale Erkenntnis der eintägigen Lehrer*innen-Fortbildung an der GLS dar.
„MESSE DER MÖGLICHKEITEN“ – EIN ORT DER INFORMATION UND DES AUSTAUSCHS
Am Nachmittag füllte sich die Aula der GLS mit unterschiedlichen schulexternen Expert*innen, die internationale Erfahrungen und lokale Kooperationsmöglichkeiten vorstellten. Gestaltet wurde eine „Messe der Möglichkeiten“ mit elf verschiedenen Ständen. Alle Expert*innen haben Stellwände und Material zur Veranschaulichung genutzt, die als Informations- und Diskussionsgrundlage dienten. Mit dabei waren der Caritasverband Leverkusen – Fachdienst für Integration und Migration, das kommunale Integrationszentrum, der Jugendmigrationsdienst Leverkusen, die Bildungskoordination Neuzugewanderte der Stadt Leverkusen, die Offene Schule Köln, eine Expertin für das deutsche Sprachdiplom und die Leiterin der „Lehr-Lernwerkstatt – Fach, Sprache, Migration“ der Universität Bremen. Die Mitglieder des TraMiS-Projektteams berichteten darüber hinaus von ihren Erfahrungen mit internationalen Schulen. Vorgestellt wurden: das Schulsystem der deutsch- und italienischsprachigen Region Bozen in Italien, die Diagnoseinstrumente für Neuzugewanderte in Schweden, die Erfahrungen an einer Schule in Kanada, die sich mit einem Set an individuellen Angeboten besonders konsequent auf die Bedarfe ihrer sozial heterogenen Schüler*innen einstellt, sowie das Internationals Network for Public Schools aus den USA, das neuzuwanderte Englischlernende an speziell für sie eingerichteten Regelschulen erfolgreich zum Schulabschluss führt.
Während der „Messe der Möglichkeiten“ hatten die teilnehmenden Lehrerinnen und Lehrer die Möglichkeit drei Messestände ihrer Wahl für je 15 Minuten zu besuchen, um sich über Erfahrungen zum Umgang mit transnationaler Mobilität auszutauschen und neue Impulse für die schulische Praxis zu bekommen.
KONKRETE ENTWICKLUNGSMAßNAHMEN FÜR DIE GLS
Abschließend wurden aus den neugewonnenen Erkenntnissen zum Umgang mit transnationaler Mobilität an Schulen konkrete Entwicklungsmaßnahmen für die GLS abgeleitet, welche in naher Zukunft geprüft und umgesetzt werden sollen. Als Konsequenz der „Messe der Möglichkeiten“ haben sich Lehrerinnen und Lehrer dafür ausgesprochen, Projekttage zu gestalten, an denen Vertreter*innen von lokalen Organisationen teilnehmen, um in der Schule das Ziel von Antidiskriminierung und Antirassismus zu unterstützen. Auch soll das Deutsche Sprachdiplom im Rahmen einer schulischen Arbeitsgemeinschaft (AG) erlangt werden können. „Für Lernende mit Deutsch als Zweitsprache sollten zukünftig Sprachpaten aus der Schülerschaft bereitgestellt werden. Das dient dem Ziel einer Willkommenskultur an der Schule“. Weitere geforderte Entwicklungsmaßnahmen waren die vorhandene Mehrsprachigkeit des Kollegiums transparent zu machen, um diese ab sofort zur Förderung von Mehrsprachigkeit im Schulalltag der GLS besser nutzen zu können, sowie die Etablierung von zusätzlichen Arbeitszeiten in den kollegialen Fächergruppen zur Erstellung von sprachsensiblen Unterrichtsmaterialien, die dann beispielsweise in den Individuellen Lernzeiten genutzt werden können.
Andreas Brenken fasste den Tag mit den Worten zusammen, „dass das erforderliche gesellschaftliche Wir in einer transnationalen Gesellschaft nur durch ein Vor- und Erleben von Wir an der GLS gefördert werden kann“.
Ein Beitrag von:
Kim Kasting
Studentische Hilfskraft im Projekt TraMiS