Zugewanderte Eltern: Anerkennung der Muttersprachen in der Schule
„Die Muttersprache – ein Stück Heimat, für immer, egal woher wir kommen und wohin wir gehen. Das ist unsere Identität und ein Teil von uns. Die Sprache der Geborgenheit, die wir nicht abschütteln oder abgeben können, sie begleitet uns unser ganzes Leben und gibt Kraft als Erinnerung unserer Herkunft“, sagt Vita Feldmane-Millere, Koordinatorin des MigrantenElternNetzwerk Niedersachsen in Wolfenbüttel, die aus Lettland stammt. In ihrem Video anlässlich des Tags der Muttersprache betont das Regionalnetzwerk in Wolfenbüttel deshalb die positiven Emotionen, die mit der ersten gelernten Sprache verbunden sind.
Für Eltern, die selbst zugewandert, deren Kinder aber bereits hier aufgewachsen sind, bedeutet der Erhalt der Muttersprache(n) ein wichtiges Band zu ihrer Herkunftskultur und ihrem Herkunftsland, zu Eltern, Großeltern, Geschwistern. Zudem ist die emotionale Bindung der Eltern an ihre Muttersprache, ihre erste Sprache, in der Regel enger als an das Deutsche, selbst wenn sie es fließend sprechen können. Wer möchte denn Kinderlieder, Kinderspiele übersetzen und könnte sie dann noch mit der gleichen Freude daran den eigenen Kindern weitergeben? Auch schimpfen geht in der Muttersprache deutlich besser als in einer Sprache, die man eventuell erst als Erwachsene*r gelernt hat.
Aus diesem Grund sprechen viele zugewanderte Eltern mit ihren Kindern in Deutschland ihre Herkunftssprache(n). Solange die Kinder ihre wesentlichen Kontakte in der Familie haben, lernen sie diese Sprache(n). Später, wenn sie in die Kita gehen die Schule besuchen, eigene Freundschaften schließen, kommt das Deutsche dazu. Sie wachsen also mehrsprachig auf. Das gilt für mehr als 20 Prozent der Kinder in Deutschland.
Mehrsprachigkeit positiv für kognitive und soziale Entwicklung
Inzwischen ist allgemein anerkannt, dass Mehrsprachigkeit keinesfalls schädlich ist. Im Gegenteil: Eine Vielzahl von Studien weist positive Einflüsse von Mehrsprachigkeit auf die kognitive und soziale Entwicklung nach. Unterschiedliche Sprachen können für das Individuum, das sie verwendet, unterschiedliche Bedeutungen haben. Mit jeder Sprache sind besondere Gefühle und Aspekte der Persönlichkeit, Situationen und damit auch Ausdrucksmöglichkeiten verbunden. Um es mit den Worten von Kübra Gümüşay zu sagen: „Türkisch ist für mich die Sprache der Liebe und Melancholie. Arabisch eine mystische, spirituelle Melodie. Deutsch die Sprache des Intellekts und der Sehnsucht. Englisch die Sprache der Freiheit.“ (Gümüşay 2020: Sprache und Sein) Vielsprachigkeit als Reichtum!
Spätestens jedoch, wenn die Kinder in den Kindergarten bzw. in die Schule kommen, stellen Eltern mit großem Bedauern fest, dass ihre Kinder zunehmend und häufig ausschließlich, auch miteinander, Deutsch sprechen ebenso wie mit den Eltern, die ihrerseits weiterhin in der Familiensprache mit den Kindern sprechen, um diese noch zu erhalten.
Im Wesentlichen ist diese Entwicklung zur Einsprachigkeit darauf zurückzuführen, dass in der Gesellschaft – in den Bildungsinstitutionen – Einsprachigkeit in Form des Deutschen als Normalzustand angesehen und praktiziert wird.
Deutsche Einsprachigkeit als Normalzustand praktiziert
Bereits in der Kita erfolgt die Sprachförderung in der Regel mit Fokus auf den Erwerb der deutschen Sprache. Mehrsprachigkeit wird selten gefördert. Unter anderem ist die Homogenität des pädagogischen Personals hierfür ein Grund. Die sprachliche Vielfalt in der Kita findet sich in der Regel nur bei den Kindern. Dennoch ist in den Kindergärten inzwischen fast überall anerkannt, dass das Erlernen der Familiensprache nicht die Sprachentwicklung im Deutschen behindert. Die Empfehlung an die zugewanderten Eltern, mit ihren Kindern doch bitte Deutsch zu sprechen, erfolgt heute deutlich seltener als noch vor einigen Jahren.
Personal in Bildungsinstitutionen meist einsprachig aufgewachsen
Es ist keine Frage: Zugewanderte Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder (sehr) gut Deutsch sprechen und schreiben lernen. Nur so ist ein Bildungserfolg möglich. Trotzdem ist die Anerkennung der weiteren Sprachkenntnisse in der Schule eine wichtige Forderung von zugewanderten Eltern und Kindern. Das gilt noch vordringlicher für diejenigen Schüler*innen, die in ihrem Herkunftsland bereits eine Schule besucht haben, über gefestigte Sprachkenntnisse in ihrer Herkunftssprache verfügen. Sie stehen vor der Herausforderung, Deutsch und eine (weitere) Fremdsprache in der Schule zu lernen, ohne die Sprache einbringen zu können, die sie bereits beherrschen.
Wenn man sich die Bildungsinstitutionen in Niedersachsen anschaut, dann fällt die Einsprachigkeit auf, die im krassen Gegensatz zu der Heterogenität und zur Vielfalt der Sprachen in der Schüler*innenschaft steht. Die Anerkennung im familialen Kontext erworbener Sprachkenntnisse als zeugnisrelevant und damit als Voraussetzung für den Zugang zu höheren Bildungsabschlüssen findet nicht statt. Nur in gesetzlich geregelten Ausnahmefällen kann in Niedersachsen die Herkunftssprache als Ersatz für eine Fremdsprache angerechnet werden.
Fremdsprachen, die an den Schulen unterrichtet werden, und in denen man eine Zensur auf dem Zeugnis bekommt, sind in Niedersachsen Englisch, Französisch, Spanisch, Latein und Alt-Griechisch. Herkunftssprachlicher Unterricht hat den Status eines „netten Extras“ und findet als zusätzliches freiwilliges Angebot am Nachmittag oder in einer AG und fast überwiegend an Grundschulen statt. Für das Erreichen eines Schulabschlusses zählt er nicht.
Abwertung durch fehlende Anerkennung in der Schule
Kinder, die in der Familie vielsprachig aufwachsen, erkennen in einem solchen Umfeld schnell, dass ihre Familiensprache keinen guten Ruf und keine Anerkennung hat. Sie wird nicht immer, aber systemisch, als minderwertig behandelt, nicht wert unterrichtet und im Zeugnis festgehalten zu werden. Dadurch verringert sich das Interesse der mehrsprachig aufwachsenden Kinder an ihrer Familiensprache. Sie übernehmen die Abwertung und damit auch die Abwertung ihrer Kompetenz. „Die Abwertung der eigenen Sprache betrifft Menschen selbst, denn Sprache ist nichts den Menschen äußerliches, sie kann nicht einfach abgelegt und nur schwer verleugnet werden – und doch geschieht dies in der Schule jeden Tag. (..) Die Ausgrenzung und Abwertung von Sprachen ist die Ausgrenzung und Abwertung von Menschen anhand bestimmter Merkmale, mit denen Eigenschaften verbunden werden. Sie ist Rassismus.“ (Katrin Huxel)
Aus den geschilderten Gründen ist es für zugewanderte Familien wichtig, ja eine Herzensangelegenheit, dass die Herkunftssprachen, die Sprachen der Zuwanderer*innen, in den Bildungsinstitutionen Anerkennung und Förderung erhalten. Als Beiratsmitglied des TraMiS-Projekts und als Koordinatorin des MigrantenElternNetzwerk Niedersachsen ist die Anerkennung aller Herkunftssprachen mindestens als zweite Fremdsprache durch eine gesetzlich geregelte Möglichkeit zur Prüfung, wie sie auch der Rat für Migration in die Debatte einbringt, eine der zentralen Forderungen, die wir bei der Novellierung des Erlasses zur Förderung von Bildungserfolg und Teilhabe von Schülerinnen und Schülern nicht-deutscher Herkunftssprache Niedersachsen einbringen werden. Darüber hinaus setzt sich das MigrantenElternNetzwerk Niedersachsen dafür ein, dass die Vielsprachigkeit unserer Einwanderungsgesellschaft ihren Ausdruck in dem Sprachenangebot in den niedersächsischen Bildungsinstitutionen findet und darüber hinaus Mehrsprachigkeit als Leitkonzept in den niedersächsischen Schulen verankert wird. Wie bereits in dem Beschluss der KMK von 2013 festgelegt, ist es Aufgabe der Schule, „die sprachlich-kulturelle Vielfalt ihrer Schüler-und Elternschaft als Chance für interkulturelles Lernen bewusst wahr(zunehmen) und (…) diese in der schulprogrammatischen Arbeit zu berücksichtigen. Hierzu gehört auch die Würdigung und Förderung der sprachlichen Kompetenzen mehrsprachig aufwachsender Schülerinnen und Schüler.“
Realität an programmatische Äußerungen anpassen
Das Kultusministerium des Landes Niedersachsen muss hierfür die notwendigen Voraussetzungen in einem Erlass schaffen. Darüber hinaus ist es wichtig, dass von Mehrsprachigkeit nicht nur mehrsprachig aufwachsende Schüler*innen profitieren, sondern ebenso Schüler*innen, die aufgrund ihrer familiären Herkunft nur einsprachig sozialisiert worden sind. Mehrsprachigkeit sollte also nicht als etwas Außergewöhnliche betrachtet werden, das nur für eine bestimmte Gruppe gilt und nur bei Projekttagen und Schulfesten einer Rolle spielt. Mehrsprachigkeit soll „Teil des alltäglichen Lernkonzeptes“ (Ingrid Gogolin in Erziehung und Wissenschaft, S.40) sein. Nur so wird der Wert von Mehrsprachigkeit auch in der Gesellschaft verstanden werden, nur so muss sich niemand mehr in der Öffentlichkeit scheuen, eine andere Sprache als Deutsch zu sprechen. Nur so kann die Gesellschaft als Ganzes von ihrer Heterogenität profitieren und in ihrem Zusammenhalt gestärkt werden.
Ein Beitrag von:
Beate Seusing
Koordinatorin des MigrantenElternNetzwerk Niedersachsen, Beiratsmitglied im Projekt TraMiS