Mehr migrierte Lehrkräfte und Pädagog*innen an die Schulen! Zum Gelingen multiprofessioneller Zusammenarbeit für inklusive Bildung
Die Ergebnisse im Rahmen des TraMiS-Projekts und nicht zuletzt das Arbeitspapier „Kollegien erweitern“ verdeutlichen: Um inklusive Bildung in der Migrationsgesellschaft gewährleisten und bedarfsgerecht gestalten zu können, braucht es mehr pädagogische Fachkräfte sowie verstärkte multiprofessionelle Zusammenarbeit. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) setzt sich für entsprechende quantitative und qualitative Verbesserungen in allen Bildungsbereichen ein und fordert, dass auch im Ausland ausgebildete, nach Deutschland zugewanderte Lehrer*innen und pädagogische Fachkräfte adäquate Beschäftigungsperspektiven erhalten. Wie das möglich ist, wurde in der kürzlich veröffentlichten Studie „Verschenkte Chancen?!“ erforscht. Auf zentrale Befunde und GEW-Positionen zu diesem Thema gehe ich in diesem Blogbeitrag ein.
Herausforderungen multiprofessioneller Zusammenarbeit
Lehrkräfte und Pädagog*innen verschiedener Fachrichtungen sowie zunehmend auch Quer- und Seiteneinsteiger*innen arbeiten bereits seit vielen Jahren in Schulen zusammen, oft unter schwierigen Rahmenbedingungen. Die chronische Unterfinanzierung des Bildungswesens, damit einhergehend Personalmangel, Arbeitsverdichtung und ‑belastungen sind das hauptsächliche Problem. Unterschiedliche Beschäftigungsbedingungen und Arbeitszeiten, diverse Bildungsaufträge und Professionsverständnisse wirken sich auf Kooperationen aus. Der Fachkräftebedarf und die Anforderungen an pädagogisch-professionelles Handeln sind stetig gewachsen – nicht nur angesichts der demografischen Entwicklung und heterogenen Lernvoraussetzungen von Kindern und Jugendlichen im Kontext von Migration und Inklusion. Auch zur Begleitung und Gestaltung von Übergängen im Bildungssystem oder bei der individuellen Förderung von Schüler*innen im Ganztag werden vielfältige Kompetenzen zur fachlichen, sprachlichen und sozialen Unterstützung von Bildungsprozessen benötigt.
Mehr Fachkräfte und bessere Rahmenbedingungen notwendig
Damit auf die verschiedenen Förderbedarfe und Risikolagen ebenso wie die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit in Schulen adäquat eingegangen werden kann, brauchen diese nicht nur mehr, sondern auch entsprechend qualifiziertes und motiviertes Fachpersonal. Wie im TraMiS-Impuls herausgestellt, ist es folgerichtig, über unterschiedliche Aufgaben und Rollen sowie die Ausdifferenzierung von pädagogischen Qualifikationen nachzudenken und die multiprofessionelle wie auch multilinguale Erweiterung schulischer Kollegien als Ziel grundlegender Bildungsreformen anzuregen. Dabei müssen die strukturellen Voraussetzungen im föderalen Bildungssystem sowie Erfahrungen aus der Praxis berücksichtigt werden.
Um Fachkräfte zu gewinnen und zu halten sowie Potenziale zur multiprofessionalen Zusammenarbeit zu stärken, müssen dringend Kapazitäten zur Aus‑, Fort- und Weiterbildung ausgebaut und die Rahmenbedingungen verbessert werden. Gute Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne sind das A und O, damit pädagogische Berufe attraktiver werden. Schulleitungen, Lehrkräfte, Erzieher*innen, Schulsozialarbeiter*innen, sozial- und sonderpädagogische sowie therapeutische Fachkräfte benötigen ausreichend Zeit und Raum, damit sie sich fachlich austauschen, beraten und Konzepte erarbeiten können (siehe auch die GEW-Broschüre „verschieden * gleich * gemeinsam“). Sie sollten von administrativen Aufgaben – etwa durch IT-Fachkräfte und Verwaltungsangestellte – entlastet sowie von pädagogischen Assistenzen im Unterricht und Sprach- und Integrationsmittler*innen in der Elternarbeit unterstützt werden. Diese können pädagogisches Fachpersonal jedoch nicht ersetzen.
Zu hohe Hürden für migrierte Lehrkräfte
Vor diesem Hintergrund gilt es auch, das Potenzial von zugewanderten Lehrkräften und Pädagog*innen stärker zu berücksichtigen und wertzuschätzen. Die GEW hat im Rahmen der Studie „Verschenkte Chancen?!“ die Anerkennungs- und Beschäftigungspraxis migrierter Lehrkräfte in den Bundesländern untersucht und festgestellt: Die Zahl der nach Deutschland migrierten Lehrkräfte, die ihren Beruf hier (weiter) ausüben wollen und könnten, ist beachtlich. Aber die Hürden, mit denen sie konfrontiert sind, um ihre jeweiligen Abschlüsse und Berufserfahrungen anerkennen zu lassen und letztlich gleichberechtigt an den Schulen arbeiten zu können, sind zu hoch.
Die Regelungen und Verfahren zur Anerkennung variieren je nach Bundesland; neben dem Nachweis von Deutschkenntnissen auf höchstem Niveau werden oft umfangreiche Anpassungs- bzw. Nachqualifizierungen – z.B. in einem zweiten Unterrichtsfach – vorausgesetzt, damit die volle Gleichwertigkeit der ausländischen Abschlüsse anerkannt und die Lehramtsbefähigung für den öffentlichen Schuldienst erteilt werden kann. Viele sehen angesichts der damit verbundenen Herausforderungen und Kosten davon ab, die formale Anerkennung zu beantragen. Nur 20 Prozent der Antragsstellenden gelingt entweder unmittelbar oder über eine erfolgreich absolvierte Ausgleichsmaßnahme die volle Anerkennung als Lehrer*in. Das sind bundesweit etwa 500 pro Jahr. Tausenden migrierten Lehrkräften wird hingegen der Weg an die Schulen verbaut bzw. das Recht auf eine angemessene, qualifikationsadäquate Beschäftigungsperspektive genommen. Somit werden etliche Chancen verschenkt – zu Lasten der betroffenen Kolleg*innen sowie des gesamten Bildungssystems. Das zeigen auch exemplarische Erfahrungsberichte.
Alternative Beschäftigungsoptionen oft prekär
Wenn keine volle berufliche Anerkennung als Lehrer*in möglich ist bzw. der Weg dorthin zu viel Zeit, Geld sowie Kraft kostet, stellt sich durchaus die Frage nach alternativen Beschäftigungsoptionen. Entsprechend weisen etwa IQ-Beratungsstellen, die Menschen mit ausländischen Berufsqualifikationen bei der Integration in den deutschen Arbeitsmarkt unterstützen, Ratsuchende mitunter auf andere (pädagogische) Tätigkeitsfelder hin sowie auf Möglichkeiten, auch ohne einen sogenannten Gleichwertigkeitsbescheid an Schulen zu unterrichten. Letzteres geht – abhängig von den Qualifikationen und Bedarfen für bestimmte Fächer und Schulformen – z.B. über den Seiteneinstieg, den sog. partiellen Berufszugang, als Vertretungslehrkraft, im Bereich Deutsch als Zweitsprache oder im Rahmen des Herkunftssprachlichen Unterrichts. Der Zugang in den Schuldienst auf diesen Wegen ist zwar direkter, führt jedoch meist in befristete und / oder schlechter bezahlte Beschäftigungsverhältnisse. Tätigkeiten als pädagogische Assistenzen, etwa bei freien Trägern im Rahmen von Ganztagsangeboten, sind in der Regel als prekär zu bezeichnen und für ausgebildete Lehrkräfte nicht qualifikationsgerecht. Sie können eine Einstiegsbrücke, aber auch berufliche Sackgasse sein.
Aus Sicht der GEW ist daher vordringlich, zugewanderten Lehrkräften Wege zur erfolgreichen Anerkennung ihrer ausländischen Abschlüsse und Berufserfahrungen zu ebnen, ihnen angemessene Beschäftigungsperspektiven unter fairen Bedingungen sowie Aussichten auf die Gleichstellung mit in Deutschland ausgebildeten Lehrkräften zu bieten. Hierzu gilt es, Hürden im Anerkennungsprozess abzubauen, Diskriminierungen entgegenzuwirken und vor allem die Anerkennungsquote mit Blick auf die volle Lehramtsbefähigung zu erhöhen.
Verdreifachung der Anerkennungen ist möglich
Die GEW hat ein Bündel von Maßnahmen gefordert und verschiedene Stellschrauben benannt, die nachjustiert werden sollten, um entsprechende Verbesserungen zu erzielen. Anerkennungsverfahren müssen insgesamt niedrigschwelliger und transparenter gestaltet werden. Vor allem braucht es leichtere Zugänge zu Ausgleichsmaßnahmen und zielgruppenspezifische Qualifizierungsangebote, z.B. mehr Eignungsprüfungen zum Nachweis fachlicher Kenntnisse für ein zweites Unterrichtsfach und verkürzte Anpassungslehrgänge, in deren Rahmen erforderliche didaktische und sprachliche Kompetenzen passgenauer vermittelt werden. Mehrsprachige Informations- und Beratungsangebote, mehr berufsfeldbezogene Deutschsprachkurse, berufsbegleitende Angebote zur Nach- und Weiterqualifizierung sowie niedrigere Kosten würden dazu beitragen, dass sich der Anteil migrierter Lehrkräfte an den Schulen erhöht. Nach unseren Schätzungen könnten bundesweit jährlich bis zu 1.375, also fast dreimal so viele wie bisher, eine volle Lehramtsbefähigung erhalten. Das Gesamtpotenzial zur Unterrichtsversorgung ist sicherlich weitaus größer und sollte nachhaltig gehoben werden, z.B. durch Maßnahmen zur diversitätsbewussten Personalentwicklung.
Ressourcen nicht verschleudern
Von verbesserten Beschäftigungsperspektiven migrierter Lehrkräfte und Pädagog*innen profitiert das gesamte Bildungssystem – nicht nur angesichts des allgemeinen Personalmangels. Sie leisten auch einen wichtigen Beitrag zur migrationsgesellschaftlichen Öffnung und zum Gelingen inklusiver Bildung, etwa indem sie ihre Sprachkompetenzen zur Förderung mehrsprachiger Schüler*innen und in der Elternarbeit, pädagogische Impulse zum sprachsensiblen Fachunterricht sowie neue Perspektiven auf transnationale Bildungsprozesse einbringen. Sie können vielfältige Brücken bauen und Vorbilder sein sowie die multiprofessionelle Zusammenarbeit bereichern. Insofern lautet der nachdrückliche GEW-Appell: „Die Länder sollten diese Ressourcen nicht länger verschleudern, sondern wertschätzen und als zusätzliche Chance für die Schulen, für die Kinder, für mehr Vielfalt im öffentlichen Dienst nutzen.“ (vgl. Pressemeldung und Handout zur Präsentation der Studie)
Keine Sonderrolle für migrierte Lehrkräfte
Im Zuge der Corona-Pandemie hat sich die ohnehin sehr ungleiche Verteilung von Bildungs- und Teilhabechancen nochmal verstärkt. Der Bedarf an individueller Förderung für benachteiligte Schüler*innen ist weiter gestiegen; Kinder und Jugendliche mit Flucht- oder Migrationserfahrung sind von Risikolagen und Mehrfachdiskriminierungen besonders häufig betroffen. Eine verstärkte Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams, die auch mit den Familiensprachen und sozialen, transnationalen Lebensrealitäten der Schüler*innen vertraut sind, käme ihnen zu Gute. Das soll keinesfalls bedeuten, dass migrierten Lehr- und Fachkräften in diesem Kontext eine Sonderrolle zukommt. Entsprechende Kompetenzen und Lebensweltorientierungen können sowohl von in Deutschland ausgebildeten Fachkräften als auch von Kolleg*innen mit Berufsabschlüssen und ‑erfahrungen aus dem Ausland eingebracht und entfaltet werden. Auch dies erfordert Gelegenheiten zur (multi-)professionellen Reflexion und zur fachlichen Aus‑, Fort- und Weiterbildung.
Aktuelle, zentrale bildungspolitische Forderungen der GEW
Schon länger mangelt es in Deutschland flächendeckend an Lehrkräften sowie pädagogischen Profis. Die Situation wird sich in den kommenden Jahren, vor allem auch mit Blick auf den Rechtsanspruch auf ganztägige Bildung und Betreuung von Grundschulkindern ab 2026, noch weiter verschärfen. Die GEW setzt sich u.a. für hochwertige Ganztagsangebote ein, für entsprechende Qualitäts- und Qualifizierungsoffensiven sowie eine bessere Ausstattung von Schulen nach Sozialindex. Zur Bundestagswahl hat sie die Themen Fachkräftemangel, Investitionsstau, digitale Ausstattung, Ganztag, politische Bildung und gute Arbeit in den Fokus gerückt und Vorschläge zur nachhaltigen Bildungsfinanzierung durch Bund, Länder und Kommunen gemacht. Denn gute Bildung für alle erfordert Milliarden-Investitionen für den quantitativen und qualitativen Ausbau des Bildungswesens sowie eine bedarfsgerechte Verteilung von personellen und materiellen Ressourcen.
Wer sich in und mit der GEW für diese Anliegen und mehr migrationsgesellschaftliche Expertise einsetzen will, um Diskriminierungen im Bildungsbereich abzubauen und die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen zu erzielen, ist jederzeit willkommen. Auch Studierende, Seiteneinsteigende und migrierte Lehrkräfte, die sich auf den Weg zur Anerkennung ihrer Qualifikationen machen, können übrigens Mitglied werden.
In diesem Sinne möchte ich mich abschließend im Namen der GEW bei allen Beteiligten im TraMiS ‑Projekt für die konstruktive multiprofessionelle Zusammenarbeit herzlich bedanken!
Ein Beitrag von:
Elina Stock
Referentin im GEW-Hauptvorstand, Vorstandsbereich Vorsitzende, und verantwortlich für die GEW-Partnerschaft mit TraMiS