Individuelle Lösungen an einer Kölner Reformschule
8.10 Uhr: Schulbeginn an der Offenen Schule Köln (OSK). Statt einer Schulklingel lässt die Leiterin einer Lerngruppe der Mittelstufe eine Klangschale erklingen. Wie jeden Tag beginnt die Schule mit dem Tagesplenum, in dem organisatorische Punkte des Schultages besprochen werden.
Jahrgangsübergreifende Lerngruppen statt Klassenverband
Die altersgemischte Lerngruppe ist aus Schüler*innen des 8. bis 10. Jahrgangs zusammengesetzt – ein Fünftel der 25 Schüler*innen haben einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Die Inklusionsbegleiterin sitzt zu Beginn an einem Tisch neben dem etwas schüchtern wirkenden Gastschüler aus Montevideo. In einer anderen Ecke des Raumes steht ein zur Wand ausgerichteter Einzeltisch – der Platz eines Schülers, der sich leicht ablenken lässt und deswegen gerne alleine sitzen möchte. Daneben eine Vierertischgruppe, an der Schüler*innen der 10. Stufe sich gemeinsam auf ihre Abschlussprüfung vorbereiten. In der Lerngruppe lernen auch drei achtzehnjährige Schüler, die als unbegleitete minderjährige Geflüchtete vor einigen Jahren nach Deutschland gekommen sind.
Die OSK ist eine staatlich anerkannte Privatschule mit reformpädagogischem Ansatz und eine von 12 Partnerschulen im Projekt TraMiS. Wir, Torben Dittmer und Patience Amankwah, konnten die OSK im Juni 2019 bei einem Schulbesuch kennenlernen und hatten die Möglichkeit, in mehreren Lerngruppen zu hospitieren und mit Lehrkräften, Schüler*innen und Eltern ins Gespräch zu kommen.
Gelernt wird an der OSK nicht im Klassenverband, sondern in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen. Die Unterstufe umfasst die Jahrgänge 5 bis 7, die Mittelstufe die Jahrgänge 8 bis 10. In jeder Stufe gibt es 5 altersgemischte Lerngruppen mit durchschnittlich 26 Schüler*innen. Bei der Zusammenstellung der Gruppen wird versucht, eine Balance zwischen den Geschlechtern und den verschiedenen Leistungsständen herzustellen.
Perspektiven nach der Mittelstufe
Nach Abschluss der Mittelstufe können Absolvent*innen mit entsprechender Qualifikation in die gymnasiale Oberstufe eintreten. Auch wenn die Perspektive auf die Schüler*innen an ihrem individuellen Bedarf ausgerichtet ist, lassen sich auch gruppenspezifische Maßnahmen und Handlungsroutinen der Schule feststellen. So wechseln Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf nach der Mittelstufe in der Regel in die Berufspraxisstufe der OSK. Leistungsstarken Deutschlernenden wird nach ihrem mittleren Schulabschluss zum Teil auch eine Bewerbung an einem Berufskolleg empfohlen, mit der Begründung, dass sie sich dort auf „weniger deutschlastige“ technische und naturwissenschaftliche Fächer konzentrieren können und eine realistischere Chance besteht, das Fachabitur zu erwerben. Im Fall, dass sich die Schüler*innen hierfür entscheiden, unterstützt die OSK diese bei der persönlichen Vorstellung an der Schule durch eine individuelle Begleitung.
Individuelles Lernen
An der OSK arbeiten die Schüler*innen zu großen Teilen selbstständig an Unterrichtsbausteinen und wirken eigenverantwortlich bei der Planung ihrer Lernzeit und ihrer Lernziele mit. In den Hauptfächern Deutsch, Englisch und Mathe lernen die Schüler*innen in der individuellen Lernzeit und in den Fachbüros, in denen immer eine Fachlehrkraft anwesend ist. Ergänzt werden die Hauptfächer durch Werkstattkurse in den Nebenfächern, in denen in Blöcken und längeren Epochen gearbeitet wird. Zusätzlich findet Projektunterricht statt, vornehmlich in Gesellschaftslehre und in den Naturwissenschaften.
Im individuellen Lern- und Entwicklungsplan (ILEP) legen die Schüler*innen gemeinsam mit Eltern und der Lerngruppenleitung ihre persönlichen Lern- und Entwicklungsziele fest. Diese können sich auch auf soziale und emotionale Aspekte beziehen. Vier Mal im Jahr werden diese Ziele reflektiert und neu festgelegt.
Gute Chancen für Seiteneinsteiger*innen aus dem Ausland
Für neu zugewanderte Schüler*innen bedeutet das etwa, sich für die Lernzeiten in ihren Lerngruppen zunächst das Ziel zu setzen, ihre Deutschkenntnisse zu erweitern. Durch die regelhafte Zuweisung zu einer festen Lerngruppe von Beginn an, sollen möglichst viele Anlässe für einen sozialen und sprachlichen Austausch geschaffen werden. Die individuelle Unterrichtsgestaltung in den etablierten heterogenen Lerngruppen bietet für Neueinsteiger*innen aus dem Ausland nach Auskunft der Schulleitung gute Chancen einen Schulabschluss zu schaffen. Sie können dafür auch eine längere Zeit als die üblichen drei Jahre in den altersgemischten Lerngruppen bleiben. Zusätzlich können sie von Anfang an einen Förderkurs für Deutsch als Zweitsprache besuchen.
Differenzierung durch Multiprofessionelle Teams
8.50 Uhr: Der Projektunterricht der Lerngruppe, in der wir hospitieren, hat mittlerweile begonnen. Neben der Lerngruppenleiterin sind auch noch eine Fachlehrkraft und eine Inklusionsbegleiterin anwesend. Während ein Großteil der Lerngruppe mit der Fachlehrerin einen kurzen Film zum Thema Drogen schaut und anschließend darüber diskutiert, wechselt die Lerngruppenleiterin mit zwei Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf in den benachbarten Differenzierungsraum. Dort wird mit Unterstützung eines Bundesfreiwilligen an einem Unterrichtsbaustein zum Thema Mikroplastik gearbeitet.
Das Beispiel illustriert, wie an der Kölner Reformschule in multiprofessionellen Teams unterrichtet wird. Die Leitung einer Lerngruppe ist immer doppelt besetzt und besteht aus einer Regelschullehrkraft und einer Lehrkraft der Sonderpädagogik. Hinzu kommen Inklusionsbegleiter*innen und Bundesfreiwillige. Die OSK besetzt zwei Inklusionsbegleitungsstellen, für die keine besondere Qualifikation erforderlich ist, mit einer besser bezahlten Fachkraft. Inklusionsbegleiter*innen sind vornehmlich für Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zuständig – sofern es die Lernsituation erfordert, unterstützen sie aber auch andere Schüler*innen einer Lerngruppe. Dies kann auch ein Gastschüler aus dem Ausland sein, der noch nicht mit dem Schulalltag vertraut ist.
Niedrigschwelliger Kontakt zu den Lernbegleiter*innen
In der Regel besteht für Lehrkräfte an der OSK eine Anwesenheitspflicht von 8.00 bis 16.00 Uhr. Diese Regelung sorgt für einen intensiven Austausch innerhalb des Kollegiums. Statt eines gemeinsamen Lehrer*innenzimmers gibt es kleinere Teamstationen, in denen sich Lernbegleiter*innen der kooperierenden Lerngruppen aufhalten und den Unterricht vorbereiten. Die Teamstationen befinden sich in unmittelbarer Nähe zu den Lerngruppen und der Zugang ist niedrigschwellig. Schüler*innen können sich bei schulischen und auch außerschulischen Problemen an die Lernbegleiter*innen in den Teamstationen wenden.
Besondere Unterstützung für geflüchtete Jugendliche
„Die Schüler wissen einfach, dass sie uns als Vertrauensperson haben”, erklärt uns ein Lehrer. Das gelte im besonderem Maße für den Kontakt zu einigen geflüchteten Jugendlichen, die alleine in Deutschland leben. Traumatische Erlebnisse auf der Flucht und die unsichere Aufenthaltsperspektive erfordern eine besonders intensive Betreuung dieser Schüler. Häufig sind die Lernbegleiter*innen der OSK wichtige erwachsene Bezugspersonen.
Einer dieser Schüler wird nächstes Jahr den 10. Jahrgang innerhalb seiner Lerngruppe wiederholen und danach vielleicht sein Fachabitur an einem Berufskolleg machen. Von der Schule erhält er viel Unterstützung, etwa von der Schulsozialarbeiterin, die ihn bei Behördengängen begleitet, denn der junge Mann muss regelmäßig seinen Aufenthaltstitel verlängern. „Die unklare Bleibeperspektive ist ungemein lähmend für den Bildungserfolg solcher Schüler”, berichtet sein Lehrer. Diese emotionale Belastung werde von den Schulbehörden völlig unterschätzt. Um den schulischen und außerschulischen Bedürfnissen dieser Schüler*innen gerecht zu werden, investiere er ein Vielfaches an Zeit im Vergleich zu anderen Schüler*innen.
Individuelle Lösungen für alle
„Wir denken vom Menschen und nicht vom System aus“, beschreibt der Gründungsschulleiter das Konzept der OSK. In der relativ kurzen Geschichte ihres Bestehens hat die Schule bereits verschiedene Modelle ausprobiert, den Unterricht und die Lerngruppen zu gestalten. Eine Schule müsse sich beständig weiterentwickeln und das bezieht sich – so der Schulleiter – selbstverständlich auch auf Aspekte, die sich durch Anforderungen einer zunehmend mobilen Schülerschaft ergeben. Für Kinder und Jugendliche aus dem Ausland, die neu an die Schule kommen, müssen individuelle Lösungen gefunden werden, aber „das ist an der OSK nichts Neues“, betont der Schulleiter, denn die Schule sucht individuelle Lösungen für alle.
Ein Beitrag von:
Torben Dittmer
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt TraMiS
Patience Amankwah
Studentische Hilfskraft im Projekt TraMiS