Gut erfasst – Wie schwedische Schulen die mitgebrachten Kompetenzen von Neuzugewanderten nutzen
An einer Grundschule in Lidingö, einer Insel in direkter Nachbarschaft der schwedischen Hauptstadt Stockholm, treffe ich Gabriella und Towe. Die beiden Lehrerinnen und Diagnostikerinnen arbeiten für die Kommune und sind es gewohnt, Menschen aus dem Ausland schwedische Schulen zu erklären. Sie vermitteln mir, wie sie neuzugewanderten Kindern und Jugendlichen den Weg in die Schule ebnen.
Dieses Gespräch ist eines von vielen, das ich während meines Aufenthalts in Stockholm im Mai 2019 führen konnte. Ich habe Schweden im Rahmen des Forschungsprojekts TraMiS besucht, weil wir uns dafür interessieren, wie Schule dort mit Neuzuwanderung umgeht und welche Impulse sich für die deutsche Diskussion aufnehmen lassen. Schweden hatte 2015, ähnlich wie Deutschland, einen starken Anstieg des Zuzugs von ausländischen Schüler*innen zu verzeichnen. Es verfügt jedoch über ein anderes Schulsystem und hat teilweise andere Umgangsweisen entwickelt.
Schnelle Diagnostik in der stärksten Sprache
Wenn ein Kind im schulpflichtigen Alter aus dem Ausland nach Schweden kommt, durchläuft es ein standardisiertes Mapping-Verfahren (Kartläggning), in dem Eltern und Kind die nötigen Informationen zum schwedischen Schulsystem erhalten und der Lern- und Entwicklungsstand des Kindes oder Jugendlichen festgestellt wird. Das geschieht innerhalb von zwei Monaten nach der Ankunft. Der erste Schritt des Mappings ist ein Gespräch an dem Towe oder Gabriella, das Kind und die Erziehungsberechtigten und außerdem ein*e Dolmetscher*in teilnehmen. Towe und Gabriella wollen erfahren, welche Sprachkenntnisse und Schulerfahrungen das Kind hat, welche Interessen es zeigt und was Kind und Erziehungsberechtigte von der Schule erwarten. Im Gegenzug vermitteln sie, wie schwedische Schulen strukturiert sind und wie dort mit Kindern und Jugendlichen im Verständnis eines partnerschaftlichen Lernens umgegangen wird. Für manche Eltern ist es dann, so berichtet Towe z.B. überraschend, dass es keine körperlichen Strafen an schwedischen Schulen gibt.
Im zweiten Schritt werden mit dem Kind ohne Erziehungsberechtigte zwei weitere Gespräche geführt, eins um die Lese- und Schreibfähigkeit festzustellen und eins zum mathematischen Denken. Towe betont: Das Wichtigste dabei ist, dass die Schüler*innen sich in der Mappingsituation sicher fühlen und diese nicht als Test oder Prüfung begreifen. Das Kind soll sich in seiner stärksten Sprache ausdrücken, welche nicht unbedingt die vorherige Schulsprache sein muss. Dazu stehen Gabriella und Towe die Mapping-Materialien der schwedischen Schulbehörde (Skolverket) momentan in 37 verschiedenen Sprachen zur Verfügung, außerdem helfen auch hier Dolmetscher*innen.
Erhebung des mathematischen Denkens mit anregendem Material
Gabriella, die ausgebildete Mathelehrerin, zeigt mir ein Bild (siehe oben), das sie für das Mapping des mathematischen Denkens benutzt. Es gibt viele Fragen zu dem Bild, die auf ein Grundverständnis mathematischer Verfahren abzielen. Die Schüler*innen können auf allen möglichen Niveaus darauf antworten. Im Hintergrund des Bildes ist zum Beispiel ein Fahrrad zu sehen, das an der Wand eines Hauses lehnt. Die erste Frage im Mapping dazu lautet: „Was würdest du tun, wenn du wissen willst, wie lang es um einen Reifen herum ist?“ Eine einfache Antwort wäre, den Reifen zu zerschneiden und ihn mit einem Lineal zu messen. Schüler*innen auf hohem mathematischen Niveau könnten vorschlagen, den Radius zu messen und die Formel 2r*π zur Berechnung des Kreisumfangs zu nutzen.
Gabriella holt ein Glas mit verschiedenfarbigen und ‑geformten Knöpfen hervor, genauso eins wie auf dem Tisch im Vordergrund des Bildes liegt. Sie erläutert, wie sie anhand dieser Knöpfe über Sortierungen und Verhältnisse mit den Kindern spricht. An der Wand neben dem Fahrrad ist eine Zahlenreihe aufgemalt, die als Fibonacci-Folge bekannt ist und z.B. von Schüler*innen mit einem ausgeprägten mathematischen Verständnis erkannt und angesprochen werden könnte.
Die Mapping-Ergebnisse bilden die Grundlage für eine Empfehlung von Gabriella und Towe dafür, welche Schule das Kind in Zukunft besuchen und in welchen Jahrgang es eingestuft werden sollte. Die aufnehmende Schule ist dann für den dritten Schritt des Mappings zuständig, in dem die Kenntnisse in allen Fächern festgestellt werden sollen.
Digitale Fortbildungsmöglichkeiten zum Mappingverfahren für Fachlehrer*innen
Um die Fachlehrer*innen in den Schulen in die Lage zu versetzen, das Niveau der Fachkompetenzen ihrer neuangekommenen Schüler*innen zu erheben, hat die schwedische Schulbehörde (Skolverket) einen Webkurs eingerichtet, der u.a. Videos beinhaltet, die verschiedene Aspekte anhand von Praxisbeispielen erläutern. Towe zeigt mir eines dieser Videos, in dem es um das Fach Chemie geht. Die Chemielehrerin führt darin das Mapping mit einem 13-Jährigen durch. Der Junge beobachtet wie sie Salz in Wasser auflöst und beschreibt den Vorgang auf Arabisch. Später plant er schriftlich ein eigenes Experiment und führt es durch. In einem anderen Video wird die Zusammenarbeit mit den im Mapping eingesetzten Dolmetscher*innen thematisiert. Bestenfalls bringen diese ein fachliches Verständnis mit und klären in der Vorbereitung wichtige Vokabeln und Konzepte mit den Kolleg*innen.
Bilinguale Lernbegleitung als individuelle Unterstützung
Der Mapping-Prozess ermöglicht den pädagogischen Fachkräften individuelle Hilfen und zusätzliche Angebote für den/die jeweilige Schüler*in zu empfehlen. Schüler*innen etwa, die Gefahr laufen, in einzelnen Fächern die Lernziele zu verfehlen, haben das Recht auf eine bilinguale Lernbegleitung in diesen Fächern. Wie eine solche Unterstützung funktioniert, konnte ich am Hersby Gymnasium auf Lidingö kennenlernen. Dort arbeitet Marwa als bilinguale Lernbegleiterin. Sie spricht sowohl Schwedisch als auch Dari und ist für insgesamt 20 Schüler*innen am Hersby Gymnasium zuständig. Die Idee ist nicht, dass die Begleiter*innen einfach übersetzen. Vielmehr sollen sie fachliche Inhalte vermitteln und den Schüler*innen auch in Arbeitsphasen ermöglichen, ihre stärksten Sprachen zu benutzen. Der fachliche Kompetenzerwerb wird dadurch solange unabhängig vom Gebrauch einer bestimmten Sprache (Schwedisch) gemacht, bis die Schüler*innen die Fachsprache beherrschen und diese Unterstützung nicht mehr brauchen.
Exkurs zum schwedischen Schulsystem
Das Hersby Gymnasium ist etwas ganz anderes als ein deutsches Gymnasium. Es lässt sich eher mit einer Oberstufenschule vergleichen. In Schweden umfasst die Schulpflicht ein Vorschuljahr im Alter von 6 und die Grundschulzeit, die nach 9 Jahrgangstufen endet. Fast alle Jugendlichen besuchen danach jedoch freiwillig ein Gymnasium, das verschiedene Bildungsgänge anbietet. Ein Schulabschluss lässt sich dort nach drei Jahren erreichen. Neben akademischen und berufsbildenden Programmen gibt es an den Gymnasien auch vorbereitende Programme u.a. für Schwedischlernende (Språkintroduktion), in dem die Schüler*innen nach einem individuellen Bildungsplan ihr Schwedisch verbessern und Fachkurse besuchen, um danach einen Abschluss in einem der anderen Programme anzustreben.
Systematische Evaluation zur Verbesserung der Praxis
Aktuelle Studien stellen jedoch auch Probleme bei der Umsetzung dieser Prinzipien fest. Eine Untersuchung der Schulaufsicht (Skolinspektionen) kritisiert beispielsweise, dass die über das Mapping ermittelten Erkenntnisse über die Kompetenzen der neuzugewanderten Schüler*innen zu wenig genutzt werden, um tatsächlich individuelle Bildungspläne zu erstellen und zu verfolgen. Stattdessen wird oft der schulorganisatorisch einfachste und/oder günstigste Weg gewählt, etwa Vorbereitungsklassen, in denen Schüler*innen alle demselben Stunden- und Lehrplan folgen, obwohl sie sehr unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen und ‑ziele haben. Ein für das schwedische Bildungsministerium erstellter Bericht einer Expert*innenkommission sieht außerdem Entwicklungspotential beim Zugang zu den bilingualen Lernbegleitungen, der momentan noch durch fehlendes qualifiziertes Personal und mangelnde Koordinierung durch die Schulleitungen erschwert ist.
Trotz dieser relativierenden wissenschaftlichen Erkenntnisse, bleibt mein Eindruck aus Schweden überwältigend: Die Eingliederung von Neuzugewanderten in die Schule wird sehr systematisch durchgeführt und es gibt eine große Bereitschaft, auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler*innen einzugehen und dementsprechende Standards zu definieren. Dass die Schulaufsicht die Praxis wissenschaftlich evaluieren lässt und somit Schwachstellen im System identifiziert, ist ebenfalls beeindruckend, auch wenn noch nicht absehbar ist, inwiefern den gegebenen Empfehlungen konkrete Handlungen folgen werden. In meinen Augen wäre insbesondere die konsequente Erfassung des Bildungsstands auch für die Aufnahme von neuzugewanderten Schüler*innen in Deutschland ein wichtiges Instrument. Kindern und Jugendlichen könnten dadurch bessere Bildungschancen eröffnet werden.
Ein Beitrag von:
Matthias Linnemann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt TraMiS