Gör­litz liegt im Drei­län­der­eck von Polen, Tsche­chi­en und Deutsch­land. Durch den Bei­tritt von Polen und Tsche­chi­en zur EU im Jahr 2004 haben die Gren­zen in der Regi­on ande­re Bedeu­tun­gen erhal­ten. Gör­litz und die pol­ni­sche Stadt Zgor­zel­ec sind heu­te nur noch durch den Fluss Nei­ße und nicht mehr eine har­te Gren­ze getrennt. Die Grenz­re­gi­on ist durch viel­fäl­ti­ge ver­wandt­schaft­li­che, kul­tu­rel­le und wirt­schaft­li­che Bezie­hun­gen zwi­schen den Men­schen geprägt – nicht zuletzt durch einen regen Grenz­ver­kehr und Pen­del­mi­gra­ti­on. In der Gestal­tung die­ser Bezie­hun­gen und damit des grenz­über­schrei­ten­den Rau­mes kommt dem bina­tio­nal-bilin­gua­len Bil­dungs­gang am Augus­tum-Annen-Gym­na­si­um (AAG) in Gör­litz eine beson­ders ver­ant­wor­tungs­vol­le Auf­ga­be zu. Schüler*innen aus Deutsch­land und aus Polen mit guten Noten haben hier nach dem Bestehen der Auf­nah­me­prü­fung die ein­zig­ar­ti­ge Chan­ce auf eine trans­na­tio­na­le Bildung.

Bei einem drei­tä­gi­gen Besuch des AAG im Som­mer konn­ten zwei Mit­glie­der des Arbeits­be­reichs Inter­kul­tu­rel­le Bil­dung (AbIB) der Uni­ver­si­tät Bre­men die bina­tio­nal-bilin­gua­len Klas­sen und den All­tag eines Gym­na­si­ums in Grenz­nä­he kennenlernen.

Anschlüsse für Schüler*innen aus Zgorzelec und Görlitz

Damit Schüler*innen aus bei­den Län­dern im Sekun­dar­be­reich gemein­sam in bei­den Spra­chen ler­nen kön­nen, müs­sen Anschluss­mög­lich­kei­ten geschaf­fen wer­den. Der bina­tio­nal-bilin­gua­le Bil­dungs­gang ist auf die 4‑jährige Grund­schu­le in Sach­sen und eine Grund­schul­zeit von 6 Jah­ren [1] in Polen aus­ge­rich­tet. Er star­tet am AAG schon in der 5. Klas­se mit nur 14 Schüler*innen aus deut­schen Grund­schu­len. Sie haben ein Fach mehr in der sel­ben Wochen­stun­den­zahl, um neben Eng­lisch noch Pol­nisch als wei­te­re Zweit­spra­che zu ler­nen. In Zgor­zel­ec kön­nen sich Sechstklässler*innen pol­ni­scher Grund­schu­len mit guten Deutsch­kennt­nis­sen um wei­te­re 14 Plät­ze bewer­ben, um dann in die 7. Klas­se des AAG zu wech­seln. Da sie ein rela­tiv hohes Niveau in Deutsch nach­wei­sen müs­sen, kön­nen Inter­es­sier­te schon vor der Auf­nah­me einen Kurs in Deutsch-als-Zweit­spra­che (DAZ) am AAG bele­gen und ihre Kennt­nis­se wei­ter ausbauen.

Aufbau des binational-bilingualen Programms

In den bina­tio­nal-bilin­gua­len Klas­sen ler­nen dann die 28 Kin­der von bei­den Sei­ten der Nei­ße gemein­sam, um am Ende das säch­si­sche Abitur abzu­le­gen. Alle erlan­gen in die­sem beson­de­ren Bil­dungs­gang ein sprach­li­ches Niveau in bei­den Spra­chen, das sie dazu befä­higt, sowohl in Polen als auch in Deutsch­land zu stu­die­ren. Zum Unter­richts­pro­gramm gehö­ren gemein­sam unter­rich­te­te Fächer wie Mathe­ma­tik und Sport auf Deutsch sowie Geo­gra­fie auf Pol­nisch, zudem gibt es getrenn­ten Unter­richt in Pol­nisch und Deutsch. In ein­zel­nen Fächern fin­det ein zwei­spra­chi­ger und mul­ti­per­spek­ti­visch aus­ge­rich­te­ter Unter­richt statt. Wäh­rend die Lehr­kräf­te z.B. für den Bio­lo­gie­un­ter­richt eigens bilin­gua­le Lern­ma­te­ria­li­en ent­wi­ckelt haben, kön­nen sie im Geschichts­un­ter­richt auf ein zwei­spra­chi­ges Lehr­buch zurück­grei­fen. Die Schüler*innen ler­nen dadurch expli­zit unter­schied­li­che Per­spek­ti­ven auf geschicht­li­che Ent­wick­lun­gen wahr­zu­neh­men und zu respek­tie­ren. Grenz­über­schrei­tend aus­ge­rich­te­te Pro­jek­te und Prak­ti­ka ergän­zen das Programm.

Mehrsprachigkeit als allgemeines Lernziel

Wir besu­chen Deutsch­un­ter­richt für pol­ni­sche Schüler*innen in der 7. Klas­se. Anhand der Fabel „Die Gril­le und die Amei­se“ wer­den die Cha­rak­te­ris­ti­ka die­ser Text­sor­te wie­der­holt, Wort­schatz und Gram­ma­tik geklärt und der Text­auf­bau für die Inter­pre­ta­ti­on erar­bei­tet. Im Mit­tel­punkt ste­hen also die­sel­ben Inhal­te des Fachs Deutsch, die für alle Schüler*innen in Sach­sen gel­ten. Metho­disch kom­men unter­stüt­zen­de Ele­men­te aus dem DAZ-Unter­richt hin­zu. Der Deutsch­un­ter­richt wird damit als sprach­sen­si­bler Fach­un­ter­richt auf gym­na­sia­lem Niveau gestal­tet, nicht als Sprachkurs.

Mehr­spra­chig­keit ist am AAG ein Lern­ziel, das nicht nur im bina­tio­nal-bilin­gua­len Bil­dungs­gang eine gro­ße Rol­le spielt. Die Schüler*innen kön­nen außer Deutsch und Pol­nisch auch wei­te­re Spra­chen auf einem hohen Niveau ler­nen und anwen­den. Wir besu­chen eine simu­lier­te Umwelt­kon­fe­renz, an der Schüler*innen aus Lil­le (Frank­reich), Kato­wice (Polen) und des gast­ge­ben­den AAG teil­neh­men. Inter­na­tio­nal zusam­men­ge­setz­te Teams (Dele­ga­tio­nen) ver­tre­ten jeweils die Inter­es­sen von NGOs, Län­dern, aber auch von Bäu­men und Flüssen.

Die Kon­fe­renz­spra­che ist Eng­lisch. Die Codes einer sol­chen Kon­fe­renz schei­nen allen bekannt zu sein. Rede- und Dis­kus­si­ons­zei­ten wer­den ein­ge­hal­ten, nicht benö­tig­te Rede­zeit wird zurück­ge­ge­ben. Auch die kon­fe­renz­lei­ten­de Schü­le­rin ist sen­si­bi­li­siert für mög­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­ons­bar­rie­ren und wech­selt mühe­los in die Spra­chen Deutsch, Fran­zö­sisch und Polnisch.

Anregungen für Projekte am AbIB

Der Umgang mit und die akti­ve För­de­rung von Mehr­spra­chig­keit am AAG ken­nen­zu­ler­nen, war für uns bei­de inspi­rie­rend. Es ist ein­leuch­tend, dass ein sol­ches Modell in einer Grenz­re­gi­on erprobt wird, die durch die Aus­rich­tung auf meh­re­re Län­der und Spra­chen an Bedeu­tung gewin­nen kann. Daher über­rascht es gera­de dort, wo es mög­lich ist, in weni­gen Minu­ten ein ande­res Staats­ge­biet zu betre­ten, dass eine sol­che trans­na­tio­na­le Aus­rich­tung bis­her eher sel­ten eta­bliert wur­de. Zugleich stellt sich uns die Fra­ge, wel­che Bedin­gun­gen die­ses Modell braucht. Ist es auch in weni­ger pres­ti­ge­träch­ti­gen Bil­dungs­räu­men prak­ti­ka­bel? Wäre es auch mit Pol­nisch als domi­nan­ter Spra­che im Nach­bar­land Polen attrak­tiv? Die Autorin Kat­ja Bagin­ski hat auf jeden Fall Anre­gun­gen für die Lehr-Lern-Werk­statt Fach*Sprache*Migration am Arbeits­be­reich Inter­kul­tu­rel­le Bil­dung (AbIB) mit­ge­nom­men, in der eben­falls an sprach­sen­si­blem und mehr­spra­chi­gem Fach­un­ter­richt gear­bei­tet wird. Der Autor Mat­thi­as Lin­ne­mann wur­de für das Pro­jekt Tra­MiS inspi­riert dar­über nach­zu­den­ken, inwie­fern die­ses Modell in ande­re Grenz­re­gio­nen und in migra­ti­ons­be­dingt mehr­spra­chi­ge Kon­tex­te im Inland über­trag­bar sein könn­te. Ein ers­ter Schritt dazu könn­te eine Dis­kus­si­on des AAG bei unse­rem nächs­ten Schul­work­shop im März 2020 mit ande­ren Schu­len über die mul­ti­lin­gua­len Erfah­run­gen etwa in der Aache­ner Grenz­re­gi­on, dem mehr­spra­chi­gen Süd­ti­rol oder an der Euro­päi­schen Schu­le Karls­ru­he sein.

[1] Mit Beginn des Schul­jah­res 2017/18 begann die Imple­men­tie­rung einer Schul­re­form in Polen, wel­che die Grund­schul­zeit auf 8 Jah­re ver­län­gert. Bis­her ist unklar, ob und wie der bina­tio­nal-bilin­gua­le Bil­dungs­gang dadurch ver­än­dert wer­den muss.