„Was brauchen die Kids?“ Lernen im Ankunftsstadtteil
Die Frage, was Kinder und Jugendliche aus einem benachteiligten Stadtteil mit großer Kinderarmut brauchen und was Schule dazu beitragen kann, die Bedürfnisse zu befriedigen, beschäftigt die Mitarbeiter*innen der Schule am Ernst-Reuther-Platz (ERNST) in Bremerhaven-Lehe. Dabei geht es um mehr als Unterricht – da ist sich das Schulleitungsteam einig. Wir konnten bei einem dreitägigen Besuch unserer Partnerschule im Projekt TraMiS erleben, wie diese Haltung in schulischem Handeln Ausdruck findet.
NUR MIT VOLLEM BAUCH LERNT ES SICH GUT
Es ist 7:40 am Mittwochmorgen in der Mensa der ERNST. In 20 Minuten beginnt die erste Stunde. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre. An einem Gruppentisch sitzt ein gutes Dutzend Schüler*innen verschiedenen Alters und frühstückt. Es gibt Kakao, Tee, Müsli und Wraps. Normalerweise kommen deutlich mehr Schüler*innen zum Frühstück, berichtet uns eine Mitarbeiterin der Mensa, da aber derzeit viele fasten, sei die Teilnahme geringer. Seit Gründung der ERNST 2008 gibt es das Angebot des kostenlosen Frühstücks für alle Schüler*innen, denn „nur mit vollem Bauch lernt es sich gut“, wie die Schulleiterin betont. Viele Schüler*innen würden zuhause nicht frühstücken und kämen hungrig in die Schule. Deswegen wurde das Frühstücksangebot mit Hilfe von Spenden ins Leben gerufen. Alle Schüler*innen nehmen auch am Mittagessen der Ganztagsschule teil.
Ein Großteil der Schüler*innen wohnt in direkter Nachbarschaft zur ERNST im Goethequartier. Es zählt bundesweit zu den Stadtteilen mit den höchsten Kinderarmutsraten. Die Stadt Bremerhaven weist in einer Sozialraumanalyse für Lehe in 2016 einen Anteil der unter 15-Jährigen, die Sozialleistungen nach SGB II beziehen, von 48% aus. Nachdem die Einwohner*innenzahl lange Zeit sank, wächst sie seit 2012 wieder, vor allem aufgrund von Zuzügen aus dem Ausland. Zwischen 2012 und 2015 stieg der Anteil von Kindern mit ausländischer Staatsangehörigkeit im Vorschulalter von ca. 17% auf knapp 53% an. In Anlehnung an den Begriff „Arrival Cities“, der vom britisch-kanadischen Journalisten Doug Saunders bekannt gemacht wurde, kann das Quartier als Ankunftsstadtteil bezeichnet werden – als ein Stadtteil mit einfachen Wohnungen, niedrigen Mieten, hoher Fluktuation und stark migrantisch geprägten Netzwerken, die es Neuzugewanderten erleichtern, Anschluss zu finden. In Ankunftsstadtteilen leben Menschen mit wenig Geld aus dem In- und Ausland zusammen, z.B. Langzeitarbeitslose und Künstler*innen, Geflüchtete und Arbeitsmigrant*innen.
VIELFÄLTIGE MOBILITÄTSERFAHRUNGEN IM ANKUNFTSSTADTTEIL
In solchen Stadtteilen können Schüler*innen oft nicht vom allgemeinen Trend zu höheren Bil-dungsabschlüssen profitieren, weil „sozioökonomische und migrationsbezogene Problemlagen zusammenfallen“ (S.18), so der aktuelle Bildungsbericht für Deutschland. Das kann zu sehr unterschiedlichen Mobilitätserfahrungen führen, wie wir bei unserem Besuch erfahren haben. Einige Schüler*innen sind nur selten aus dem Stadtteil herausgekommen, so dass ein Praktikum in Cuxhaven oder eine Fahrt nach Bremen schon eine Horizonterweiterung darstellt. Andere sind schon mehrmals zwischen Bremerhaven und dem Herkunftsort in einem anderen EU-Land umgezogen, und zwar nicht im Rhythmus der Schuljahre, sondern nach den Arbeitsmöglichkeiten der Eltern, so dass sie immer wieder neu ankommen müssen. Das Lernen in der Schule ist dadurch schwierig. Auch wenn sich viele Eltern für ihre Kinder das Abitur wünschen, ist das für die meisten nicht realistisch, wie uns Lehrkräfte berichteten.
Auch wenn Schulen die ungleichen Bildungsvoraussetzungen nicht zu verantworten haben, sind sie doch diejenigen, die damit umgehen müssen. Die Schulleitung der ERNST übernimmt die Verantwortung dafür, das Beste aus der Situation zu machen und sieht an vielen Stellen Handlungsmöglichkeiten: „Daher haben wir uns selbst auf den Weg gemacht.“
PRAXISPROJEKTE ALS ERGÄNZUNG ZUM UNTERRICHT
Sie legt pragmatisch den Fokus darauf, dass ein Ausbildungsplatz vermittelt wird, idealerweise mit einem Schulabschluss, zur Not aber auch ohne. Inspiriert durch reformpädagogische Ansätze, setzt sie dabei zunehmend auf Praxisprojekte, die bereits am Vormittag Entlastung vom regulären Unterricht bieten sollen.
In einem Projekt auf einem Bauernhof haben Schüler*innen beispielsweise gelernt, einen Trecker auseinanderzunehmen. Wenn sie daran Spaß gefunden und sich geschickt angestellt haben, entwickeln sie womöglich die Perspektive eine Ausbildung in einer KFZ-Werkstatt zu machen. Außerdem gibt es verschiedene Schülerfirmen, in denen Jugendliche etwa Marmelade und Honig herstellen und die Produkte auf dem Wochenmarkt neben der Schule verkaufen. Sie erlernen dabei strukturiertes und kontinuierliches Arbeiten, Kompetenzen die so oftmals weder im Unterricht, noch zuhause vermittelt werden können. Für viele Arbeitgeber sind diese Aspekte aber wichtiger als gute Noten, wie die Schulleiterin berichtet.
Solche und andere Projektkurse können die Schüler*innen der ERNST aus einem breiten Angebot im Rahmen der sogenannten Schülerakademie (SAK) belegen. Die Teilnahme an den Kursen wird nicht benotet, aber durch Zertifikate und einen Vermerk im Schulzeugnis anerkannt. Die jahrgangsübergreifenden SAK-Kurse und der Regelunterricht wechseln sich über den Tag hinweg ab. Dadurch wird versucht, das Lernen ganzheitlich anzulegen. Die Berufsorientierung beginnt bereits in der 5. Klasse nach einem Konzept, das vom Landesinstitut für Schule Bremen als herausragend ausgezeichnet wurde.
Der praktische Ansatz kommt, laut Schulleitung, der wachsenden Zahl von Schüler*innen mit einer nichtdeutschen Familiensprache in besonderem Maße zugute. Anders als im Unterricht, wo Deutsch oftmals die notwendige Grundlage ist, hätten Deutschlerner*innen bei den weniger sprachintensiven praktischen Lernangeboten der SAK geringere Nachteile und könnten sich besser profilieren. Für diese Gruppe hat eine Fokussierung auf die Ausbildung oft noch einen weiteren Effekt: Durch Ausbildungsplatz und spätere feste Arbeit können Jugendliche ohne sicheren Aufenthaltsstatus ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten. Es wird deutlich, dass die Schule sich unter den Bedingungen einer restriktiven Migrationspolitik auch damit auseinandersetzen muss, dass Schüler*innen oft auch nach jahrelangem Aufenthalt noch nicht wissen, ob sie in Deutschland bleiben dürfen. Der Film „Möglichst freiwillig“ dokumentiert beispielhaft diese Auseinandersetzung am Fall eines Schülers der ERNST, der mit seiner Familie Bremerhaven und Deutschland verlassen musste. Er zeigt eindrücklich wie sein Leben danach weiterging und wie seine Klasse auf die plötzliche Abwesenheit des Mitschülers reagierte.
SCHULENTWICKLUNG UND VERNETZUNG
„Was brauchen die Kids?“ – immer wieder diese Frage zu stellen, kennzeichnet die Grundhaltung vieler Lehrer*innen an der ERNST. Eine Lehrerin weist darauf hin, dass sie im Grunde an jeder weiterführenden Schule arbeiten könnte, aber sich explizit für die ERNST entschieden hat. In Zeiten des Lehrkräftemangels ist es eine fortwährende Herausforderung für Schulen in Bremerhaven, gut ausgebildete Pädagog*innen zu gewinnen. In der Stadt haben etwa 70% der Neueinstellungen nicht die 2. Staatsprüfung, wie ein Lehrer und Funktionär der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft erläutert. Die neuen Kolleg*innen seien wegen ihres Engagements oft hoch geschätzt. Sie bräuchten aber noch dringender als voll ausgebildete Pädagog*innen gute Fortbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten.
Eine Entwicklungsperspektive wird an der ERNST also in dreifacher Hinsicht eingenommen, sowohl bezogen auf die Schüler*innen, die Mitarbeiter*innen und die Schule als Ganzes. Die ERNST beschreitet dabei neue oder wenig genutzte Pfade, sie erhält dabei jedoch Unterstützung von außen. Als Mitglied im „Netzwerk Schule-Wirtschaft-Wissenschaft für die Region Unterweser“ kann sie auf außerschulische Verbündete bei der „Begleitung Jugendlicher und junger Erwachsener in das Arbeitsleben“ bauen. Kürzlich hat sie sich außerdem dem Schulverbund „Blick über den Zaun“ angeschlossen, in dem sich reformpädagogisch-orientierte Schulen in ihrer Schulentwicklung gegenseitig unterstützen und voneinander lernen. Die ERNST teilt hier mit vielen anderen die Überzeugung, dass gute Schule immer wieder neu von innen und mit Blick auf die eigenen Schüler*innen entwickelt werden muss.
Ein Beitrag von:
Matthias Linnemann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt TraMiS
Torben Dittmer
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt TraMiS