Die Gesamt­schu­le Lever­ku­sen Schle­busch (GLS) ist mit über 1500 Schüler*innen und knapp 150 Lehrer*innen eine der größ­ten Schu­len NRWs. Der didak­ti­sche Lei­ter Andre­as Bren­ken ver­gleicht sei­ne Schu­le mit einem Tan­ker, der schwer zu navi­gie­ren sei, vor allem bei einem Kurs­wech­sel. Des­halb wer­den Ver­än­de­rungs­pro­zes­se lang­fris­tig ange­gan­gen, schritt­wei­se ein­ge­führt und sys­te­ma­tisch eva­lu­iert. Nach drei Tagen an der GLS im Rah­men eines For­schungs­be­suchs für das Pro­jekt Tra­MiS habe ich einen leben­di­gen Ein­druck davon gewon­nen, wie die Lei­tung mit exter­ner Unter­stüt­zung den Tan­ker beweg­lich hält und neue Fahr­was­ser erschließt.

Bestandsaufnahme als Transformationsanlass

Die Anmel­de­zah­len der GLS über­stie­gen schon 2013 seit gerau­mer Zeit die Kapa­zi­tä­ten der Schu­le. Sie wur­de offen­sicht­lich von vie­len Eltern als gut für ihre Kin­der wahr­ge­nom­men. Auch die Behör­den konn­ten zufrie­den sein. Aller­dings wie­sen ein Instru­ment zur inter­nen Eva­lua­ti­on (2010) und eine Qua­li­täts­ana­ly­se des Lan­des NRW (2011) die Schul­lei­tung auf Pro­ble­me bei den soge­nann­ten Arbeits­stun­den hin. In die­sen zwei Stun­den pro Woche konn­ten Schüler*innen in einer offe­nen Unter­richts­form Auf­ga­ben der Haupt­fä­cher bear­bei­ten. Die ent­schei­den­de Erkennt­nis war, dass die­se Stun­den sehr unter­schied­lich aus­ge­stal­tet waren. Ob Schüler*innen in der Zeit Lern­fort­schrit­te erziel­ten, hing stark vom Enga­ge­ment der Lehr­kräf­te und den eige­nen, außer­halb erwor­be­nen Selbst­lern­kom­pe­ten­zen ab. In der Ten­denz pro­fi­tier­ten nur die Schüler*innen, die sowie­so schon gut in den Fächern zurechtkamen.

Einführung der individuellen Lernzeiten

Andre­as Bren­ken for­mier­te dar­auf­hin eine klei­ne Grup­pe enga­gier­ter Kolleg*innen, um ein Kon­zept zum struk­tu­rier­ten selbst­ge­steu­er­ten Ler­nen, von dem alle pro­fi­tie­ren, aus­zu­ar­bei­ten und eige­ne Arbeits­ma­te­ria­li­en zu ent­wi­ckeln. Die Grup­pe ori­en­tier­te sich an erfolg­rei­chen Model­len aus ande­ren Schu­len, bei­spiels­wei­se den Lern­bü­ros der Max-Brau­er-Schu­le in Ham­burg und adap­tier­te sie. So ent­stand ein ganz eige­nes Lern­for­mat mit einer Stun­de „Indi­vi­du­el­ler Lern­zeit“ (ILZ) an jedem Tag. Mit ihren Ideen konn­te die Arbeits­grup­pe damals jedoch nicht alle Kolleg*innen über­zeu­gen. Des­we­gen wur­den im Som­mer 2014 die ILZ nicht sofort in allen Klas­sen des neu­en fünf­ten Jahr­gangs eingeführt.

Man einig­te sich dar­auf, die ILZ über einen Modell­zeit­raum von vier Jah­ren zu erpro­ben. Zum Ende die­ser Pha­se 2018 beauf­trag­te die Schul­lei­tung den Bil­dungs­for­scher Ulrich Vie­l­uf, die ILZ auf Basis einer Lern­stan­d­er­he­bung zu eva­lu­ie­ren. Die Ergeb­nis­se der Schu­le konn­ten mit frü­he­ren groß ange­leg­ten Unter­su­chun­gen ver­gli­chen wer­den, wobei durch die teil­wei­se Ein­füh­rung auch ein Ver­gleich der ILZ-Klas­sen mit Klas­sen ohne ILZ im sel­ben Jahr­gang der GLS mög­lich war. Der Ver­gleich, bei dem die ILZ-Klas­sen ins­ge­samt gut abschnit­ten, über­zeug­te etli­che, die zuvor skep­tisch waren. Die Schul­kon­fe­renz stimm­te dann mit gro­ßer Mehr­heit für die Ver­ste­ti­gung des Modell­pro­jekts und die Über­nah­me für alle Klas­sen in den Jahr­gän­gen 5 bis 8. Heu­te gibt es die ILZ bis ein­schließ­lich Jahr­gang 10.

Individualisiertes Lernen in einer sechsten Klasse

Wäh­rend des Schul­be­suchs habe ich die Gele­gen­heit in einer ILZ zu hos­pi­tie­ren. Ich bin beein­druckt davon, mit wel­cher Selbst­ver­ständ­lich­keit Sechstklässler*innen eigen­ver­ant­wort­lich ihren Lern­pro­zess struk­tu­rie­ren. Die Lern­ma­te­ria­li­en ste­hen in Ord­nern bereit und alle bedie­nen sich dar­an ent­spre­chend ihrer Lern­stän­de. Bei Pro­ble­men mit den Auf­ga­ben nut­zen die Schüler*innen die erlern­te Hil­fe­ket­te: noch­mal in Ruhe nach­den­ken, lei­se die Nachbar*innen fra­gen, mit einer Wäsche­klam­mer den Hil­fe­be­darf anzei­gen, dann die War­te­zeit auf die Lehr­kraft sinn­voll, z.B. durch das Bear­bei­ten ande­rer Auf­ga­ben, nut­zen. Die Schüler*innen fin­den sich auch laut­los zu Teams für die Arbeit in Paa­ren zusam­men, indem sie ihren Namen und die anste­hen­de Auf­ga­be an die Tafel schrei­ben und war­ten bis sich jemand zuordnet.

Ich beglei­te zwei Mäd­chen auf den Flur, wo sie sich hin­ter einer Feu­er­schutz­tür in einer Ecke nie­der­las­sen. Die Bei­den erle­di­gen kon­zen­triert ihre Eng­li­schauf­ga­ben. Nach­dem sie ihre Lösun­gen mit dem Lösungs­blatt aus dem pas­sen­den Mate­rial­ord­ner ver­gli­chen haben, doku­men­tie­ren sie ihren Lern­fort­schritt in soge­nann­ten Log­bü­chern. Sie schei­nen die Zeit zu zweit trotz der unbe­que­men Sitz­plät­ze auf dem Boden zu genie­ßen. Andre­as Bren­ken erklärt, dass es auf­grund der hohen Kos­ten für feu­er­fes­tes Mobi­li­ar bis­her lei­der kei­ne adäqua­ten Sitz- und Arbeits­mög­lich­kei­ten außer­halb von Klas­sen­räu­men gibt. Die Situa­ti­on soll sich durch einen Erwei­te­rungs­bau aber ver­bes­sern, der Ende 2020 fer­tig wer­den soll und bei des­sen Pla­nung auf die geän­der­ten Bedürf­nis­se ein­ge­gan­gen wurde.

Wissenstransfer durch Kooperationen mit anderen Schulen

Die ILZ ist mitt­ler­wei­le zu einem Vor­bild für ande­re Schu­len gewor­den. An einem Vor­mit­tag kommt eine Dele­ga­ti­on einer ande­ren Gesamt­schu­le zu Gast, um sich das Kon­zept anzu­schau­en und Impul­se für die eige­ne Schul­ent­wick­lung mit­zu­neh­men. Sol­che Besu­che gibt es regel­mä­ßig. Die Ver­net­zung mit ande­ren Schu­len fin­det auch in der Initia­ti­ve „Schu­le im Auf­bruch“ statt, in der die GLS mit­ar­bei­tet. Das Netz­werk will Poten­tia­le für Schul­ent­wick­lung auf­zei­gen. Es ver­tritt auch gemein­sa­me Inter­es­sen gegen­über der Poli­tik und setzt sich bei­spiels­wei­se für mehr indi­vi­dua­li­sier­te Lern­for­men in allen Schu­len ein.

Neue Aufgaben für die Schulentwicklung

Mit den ILZ hat die GLS für sich ein Modell des indi­vi­du­el­len und selbst­ge­steu­er­ten Ler­nens von Schüler*innen im Schul­all­tag gefun­den, dass erfolg­reich eva­lu­iert wur­de und von Lehr­kräf­ten, Eltern und Schüler*innen ange­nom­men wird. In die­ser Hin­sicht kann der Schul­ent­wick­lungs­pro­zess als erfolg­reich abge­schlos­sen betrach­tet wer­den. Die Unter­su­chung von Vie­l­uf offen­bar­te jedoch auch ein Ergeb­nis, das die Lei­tung nach­denk­lich stimm­te. Schüler*innen, die im Jahr­gang 5 mit sprach­li­chen Rück­stän­den im Deut­schen an der GLS auf­ge­nom­men wur­den, konn­ten in den Fol­ge­jah­ren nicht auf­ho­len. Im Gegen­teil: Aus einem Lern­jahr Rück­stand zu Beginn wur­den an der GLS bis in den 8. Jahr­gang durch­schnitt­lich 2 Lern­jah­re. Betrof­fen sind sowohl Schüler*innen mit einer ande­ren Fami­li­en­spra­che als Deutsch, als auch sol­che, deren Eltern kei­ne hohen Bil­dungs­ab­schlüs­se haben.

Der Befund lös­te Ernüch­te­rung aus, wider­sprach er doch dem inklu­si­ven Selbst­ver­ständ­nis, alle Schüller*innen ihren Bedürf­nis­sen ent­spre­chend zu för­dern. Die Schul­lei­tung woll­te die unglei­chen Bedin­gun­gen nicht akzep­tie­ren und es bes­ser machen. Es folg­te eine Pro­blem­ana­ly­se und ers­te Ansät­ze zur Wei­ter­ent­wick­lung des Unter­richts wur­den aus­ge­macht. Bei einer schul­in­ter­nen Fort­bil­dung im Som­mer 2019 haben sich die Lehr­kräf­te bei­spiels­wei­se gezielt mit sprach­sen­si­blem Fach­un­ter­richt auseinandergesetzt.

Der nächs­te Fort­bil­dungs­tag fin­det noch in die­sem Jahr statt. Dabei wird u.a. wei­ter zum The­ma Sprach­för­de­rung in allen Fächern gear­bei­tet. Bei der Pla­nung und Umset­zung erhält die GLS Unter­stüt­zung durch unser Pro­jekt­team. Die Mög­lich­keit dazu ergibt sich dadurch, dass in der Pla­nung des Tra­MiS-Pro­jekts bewusst eini­ge Ele­men­te für die gemein­sa­me Gestal­tung mit den Koope­ra­ti­ons­schu­len offen­ge­hal­ten wur­den. Die GLS hat die Gele­gen­heit genutzt und schon früh signa­li­siert, dass es Inter­es­se gibt eine Fort­bil­dung zu The­men aus dem Pro­jekt an der Schu­le anzu­bie­ten. Wir vom Tra­MiS-Team star­ten daher mit die­sem beson­de­ren For­mat gemein­sa­men in die letz­te Pro­jekt­pha­se, in der wir Impul­se von den Schul­be­su­chen im In- und Aus­land ein­brin­gen und vor­läu­fi­ge Ergeb­nis­se der For­schung mit unse­ren Partner*innen aus der Schu­le dis­ku­tie­ren. Im Ide­al­fall ist etwas dabei, was der Schul­ent­wick­lung an der GLS wei­te­re Impul­se für sinn­vol­le Wen­de­ma­nö­ver in Rich­tung Bil­dungs­ge­rech­tig­keit gibt.