Eine Schule mit Visionen im Hamburger Umland – über die Entwicklung und Verwirklichung neuer Lernumgebungen
Als die Anne-Frank-Schule Bargteheide (AFS) 2013 beim Deutschen Schulpreis mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde, hatte sie bereits seit 9 Jahren alle Schüler*innen zu einem Abschluss geführt. Diese Schule – so unsere Idee – ist an jedem einzelnen Kind orientiert und besitzt Innovationskraft. Sie ist Forschungspartnerin im Projekt TraMiS und bot uns – Nabila Badirou, Studentische Hilfskraft im Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung (AbIB) und Matthias Linnemann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt TraMiS – bei einem Schulbesuch in diesem Sommer die Möglichkeit zu lernen, welche Geschichte zum Gewinn des Schulpreises führte und wie sich die Schule danach weiter entwickelt hat.
Wandel zur ausgezeichneten Schule
Die Kleinstadt Bargteheide wirkt beschaulich. Sie ist in Schleswig-Holstein gelegen und gehört zur Metropolregion Hamburg. Es gibt viele wirtschaftliche Verflechtungen mit der prosperierenden Hafenstadt, was dazu führt, dass es auch der Stadt Bargteheide ökonomisch gut geht. Hier ist vor 30 Jahren die AFS als eine Integrierte Gesamtschule entstanden, von denen es in Schleswig-Holstein vorher nur zwei in Modellversuchen gab. Mittlerweile hat Schleswig-Holstein sein Bildungssystem reformiert und die AFS ist heute eine Gemeinschaftsschule mit Oberstufe, an der etwa 900 Schüler*innen lernen. An der AFS hat sich seit Bestehen jedoch nicht nur der Schultyp geändert. Auch wenn das Kollegium von Beginn an den Anspruch hatte, allen Kindern an der Schule gute Lernbedingungen zu bieten und sie zu den bestmöglichen Lernerfolgen zu führen, gab es immer wieder Schüler*innen, die ohne Abschluss die Schule verlassen mussten. Die AFS hat Anfang der 2000er gegengesteuert und in der 9. und 10. Klasse spezielle Trainingskurse für Schüler*innen eingeführt, deren Abschlüsse gefährdet waren. Im Jahr 2004 ist sie Mitglied im Schulverbund ‚Blick über den Zaun‘ geworden, wo sie sich bis heute im Rahmen eines kontinuierlichen Hospitationsprogramms häufig mit anderen reformpädagogisch orientierten Schulen austauscht und viele Impulse für die eigene Schulentwicklung aufnimmt. Die ergriffenen Maßnahmen führten zum Erfolg und die AFS erhielt 2013 den Hauptpreis des Deutschen Schulpreises. Mittlerweile machen weit mehr als die Hälfte der Schüler*innen bessere Abschlüsse als in der Grundschule prognostiziert, nur ganz wenige bleiben hinter dieser Prognose zurück. Ein Mitglied der Schulleitung betonte, dass es gelungen sei, eine Atmosphäre zu erzeugen, in der alle Schüler*innen die Schulzeit als gemeinsame Reise verstehen, auch wenn sie verschiedene Abschlüsse zu unterschiedlichen Zeiten machen. Daher war die Auszeichnung für die ganze Schule eine großartige Bestätigung der Arbeit, wie uns von vielen Seiten bestätigt wurde. So wuchs auch der Mut zur Umsetzung neuer Ideen.
Gemeinschaftliches Lernen auf dem Campus der Visionen
Das Preisgeld in Höhe von 100.000 Euro hat die AFS dann dazu verwendet, ein 8.500 Quadratmeter großes Grundstück, ein paar Kilometer von der Schule entfernt, für 20 Jahre zu pachten. Seit 2017 nutzt die Schule den Acker als außerschulischen Lernort. Im zweiten Halbjahr der Jahrgangstufe 7 und im anschließenden ersten Halbjahr des 8. Jahrgangs bewirtschaften hier alle Klassen eine Art Gemeinschaftsgarten. Gemeinsam mit einer Parallelklasse verbringt jede Lerngruppe einen Tag pro Woche auf dem sogenannten „Campus der Visionen“. Die Schüler*innen arbeiten dort in klassengemischten Arbeitsgruppen an unterschiedlichen praktischen Aufgaben. An einem sonnigen Tag besuchen wir den Acker und werden von einem Siebtklässler herumgeführt, der uns routiniert die verschiedenen Projekte erklärt. Die Bauteams haben in den letzten Jahren beispielsweise Fahrradständer, ein Kompostklo und ein Gewächshaus errichtet. Das neueste Projekt des Gartenteams ist ein Klostergarten, in dem Küchenkräuter angebaut und direkt in der Küche oder für die Produktion von Teemischungen verwendet werden. Auf dem Rückweg zum Eingangstor bemerken wir, dass sich die Schüler*innen unter einem Pavillon versammeln, wo die Kochgruppe das vorort zubereitete Mittagessen austeilen will. Ein Mitschüler fehlt noch. Daraufhin ertönt vereint ein lautstarkes „Essen!“. Um die Zeit auf dem Campus der Visionen freizuschaufeln, wurden im Stundenplan der entsprechenden Jahrgänge einige Fächer um ein paar Stunden reduziert. Die AFS rechtfertigt den teilweisen Verzicht auf übliche Unterrichtsfächer damit, dass in dieser Lebensphase pubertätsspezifische Themen und Probleme durch die gemeinschaftliche und praktisch-körperliche Betätigung viel besser bearbeitbar seien als in herkömmlichen Unterrichtssettings im Klassenraum. Neben der Stärkung der Gemeinschaft, stehen dabei die Verantwortungsübernahme der Jugendlichen in den Projekten und ein nachhaltiges Wirken im Vordergrund.
Portfoliogespräche statt Zeugnisse
Auch in einem ganz anderen Bereich, der Leistungsrückmeldung, hat sich die AFS nach dem Gewinn des Deutschen Schulpreises verstärkt mit neuen Konzepten beschäftigt. Sie verzichtete zwar schon vorher in den ersten drei Lernjahren auf Ziffernnoten, war aber auch mit den Effekten der stattdessen ausgegebenen Lernberichte unzufrieden. In den Augen der Pädagog*innen war es grundsätzlich problematisch, dass Schüler*innen weiterhin Leistungsrückmeldungen empfangen haben und so in einer rein passiven Rolle verblieben. Sie drehten daher den Spieß um und versetzten die Schüler*innen in die Lage, den eigenen Lernprozess darzustellen und selbst zu bewerten. Das geschieht seit 2013 mithilfe von Portfolios, in denen die Schüler*innen aussagekräftige Lernprodukte aller Fächer sammeln. In Portfoliogesprächen, die halbjährlich stattfinden und Zeugnisse ersetzen, präsentieren sie ihren Klassenlehrkräften und den eigenen Eltern ausgewählte Produkte und reflektieren anhand dieser Beispiele ihren Lernfortschritt. Der Fokus des Gesprächs liegt dann in der gemeinsamen Überlegung, was sich das Kind für das nächste Halbjahr vornimmt zu verbessern. Es wird daraufhin eine Lernvereinbarung geschlossen, um die Absprache verbindlich zu machen und im nächsten Portfoliogespräch daran anknüpfen zu können. Die Reflexionskompetenz der Kinder wird ebenso in regelmäßigen Coachings von Tischgruppen gefördert, indem das Verhalten und die Rollen der Gruppenmitglieder besprochen werden. Die Persönlichkeit und das Selbstkonzept jedes Einzelnen soll dabei gestärkt werden.
Schulentwicklung durch Initiativen aus dem Kollegium
Solche Entwicklungen sind an der AFS oft von einzelnen Kolleg*innen angestoßen worden. Die Schulleitung hat die Ideen unterstützt und die Lehrer*innen ermutigt sie auszuprobieren, wie uns eine Lehrerin berichtet. Typischerweise werden zunächst Arbeitsgruppen auf freiwilliger Basis eingerichtet, in denen Konzepte erarbeitet und erste Versuche gestartet werden. Nach und nach werden andere Kolleg*innen von der Idee überzeugt bis eine kritische Masse erreicht ist, die es ermöglicht, das Vorhaben in der gesamten Schule umzusetzen. Die ehemalige Schulleiterin der AFS hat im Zuge der Verleihung des Deutschen Schulpreises die Philosophie dahinter zugespitzt so dargestellt, dass die Transformationsprozesse der AFS zwar immer im Sinne aller Kinder und Jugendlichen sind, dass man aber gleichzeitig nie alle Lehrer*innen mitnehmen könne – zumindest nicht von Anfang an.
So auch bei der Gründung einer Gruppe innerhalb des Kollegiums, die sich dem Thema ‚Schule in der Migrationsgesellschaft’ verschrieben hat. Nachdem die AFS in den letzten Jahren vermehrt neuzugewanderte Kinder und Jugendliche aufgenommen hatte und auch Ressourcen für Deutsch als Zweitsprache neu hinzugekommen waren, hat sich eine Handvoll Kolleg*innen bei einer Qualifizierung des Landes Schleswig-Holstein zu Interkulturellen Coaches weitergebildet. Ein Teilnehmer erklärte uns, wie die Auseinandersetzung mit dem Thema bei ihm auch zu einer veränderten Perspektive auf bereits Bestehendes wie zum Beispiel den Campus der Visionen führte, der eine raschere Integration in die Klassen ermögliche und praxisorientierte Lernmöglichkeiten, auch bezogen auf die deutsche Sprache bei den ausgeübten Tätigkeiten und im Umgang mit den genutzten Gegenständen, biete. Die Gruppe der Lehrkräfte – durch die Weiterbildung für die Bedarfe von Neuzugewanderten sensibilisiert – erkannte die Notwendigkeit, grundlegend über Strukturen an der AFS nachzudenken und sie so zu verändern, dass auch Kinder und Jugendliche, die noch Deutsch lernen und gerade erst an die Schule gekommen sind, ihr bestes Lernergebnis erzielen können. Bei einem Treffen mit der Gruppe wurde deutlich, dass schon sehr konkrete Vorstellungen zur Öffnung der Schule für mehr Sprachen und zum interkulturellen Kompetenzerwerb der Gemeinschaft aus Schüler*innen, Lehrkräften und Elternschaft entwickelt wurden. Diese Ideen gilt es nun auf den Rest des Kollegiums zu übertragen, getreu dem Motto der AFS: „Eine Schule ohne Vision ist nur eine tote Anstalt“.
Ein Beitrag von:
Matthias Linnemann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt TraMiS
Nabila Badirou
Studentische Hilfskraft am Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung