Zeit zum Lernen – eine Waldorfschule in einer migrationsgeprägten Großstadt
Zukunft – Gegenwart – Vergangenheit – drei handgemalte Schilder zeigen das Thema des Unterrichts an. Darunter hängt ein Landschaftsbild mit Tieren in warmen Farben. 11 Kinder der dritten Klasse der Freien Interkulturellen Waldorfschule (FIW) in Mannheim sagen gemeinsam mit großer Begeisterung ein Gedicht zum Bild auf, wobei ein Junge mit dem Zeigestock anzeigen darf, um welche Szene des Bildes es gerade im Gedicht geht. So lernen die Kinder spielerisch unregelmäßige Verbformen. „Der Baum bricht. Hui, wie ist er gebrochen!“
Deutsch als Vertiefungssprache
Die FIW ist eine von 12 Kooperations-Schulen im Projekt TraMiS, die im Projektverlauf besucht werden. Wir konnten die Szene des Fachs „Deutsch als Vertiefungssprache“ bei unserem Besuch im Mai 2019 beobachten. In Deutsch als Vertiefungssprache lernen überwiegend Kinder, die in der Familie nicht nur Deutsch sprechen. Die Lehrerin erläutert uns, dass sie bei den Verbformen vorarbeitet. Wenn die Kinder im nächsten Jahr im regulären Deutschunterricht die Zeitformen durchnehmen, sollen sie sich die wichtigsten Verbformen durch Bilder und Wiederholungen fest eingeprägt haben, auch wenn sie außerhalb des Unterrichts nicht bzw. nicht ausreichend geübt werden können. Vorarbeiten statt Nacharbeiten – diese Form der Deutschförderung soll dazu beitragen, dass Kinder mit nicht-deutscher Familiensprache den regulären Deutschunterricht selbstbewusster erleben.
Vorarbeiten statt Nacharbeiten
Die Szene ist auch ein Beispiel dafür, was wir als wichtiges Merkmal der interkulturellen Waldorf-Schule beobachtet haben – einen anderen Umgang mit der Zeit, als er in vielen Schulen gepflegt wird, aber auch eine Anpassung der historischen Waldorfpädagogik an das Leben in einem multikulturellen Stadtteil einer Großstadt. Im Projekt TraMiS fragen wir uns, ob dieser Umgang mit der Zeit auch für andere Schulen interessant sein kann, in denen Schüler*innen mit nicht-deutscher Herkunftssprache einen Schulabschluss in Deutschland anstreben.
Anpassung an lokale Gegebenheiten
Die erste Waldorfschule wurde 1919 für Arbeiterkinder in Stuttgart gegründet. Heute werden Waldorfschulen überwiegend von Kindern besucht, deren Eltern Abitur haben. Die Waldorfpädagogik ist von den philosophischen Ideen des Gründers Rudolph Steiner geprägt. In den von Eltern und Lehrkräften selbst verwalteten Schulen wird sie in unterschiedlicher Weise an die lokalen Gegebenheiten angepasst. Zu den Gemeinsamkeiten der Schulen zählen der feste Klassenverband von der ersten bis zur letzten Klasse ohne Noten und Sitzenbleiben, der fachübergreifende Unterricht, die musisch-künstlerische Gestaltung des Unterrichts und die Verbindung von schulischer und handwerklicher Bildung. Waldorf-Lehrkräfte werden an speziellen Hochschulen und Akademien ausgebildet, darunter auch an der Akademie für Waldorfpädagogik Mannheim, deren Lehrkräfte auch die Freie Interkulturelle Waldorfschule gegründet haben. Während Waldorfschulen im Durchschnitt nur einen geringen Anteil an Kindern nicht-deutscher Herkunftssprache unterrichten, ist das an der FIW anders. Etwa die Hälfte der Kinder spricht zu Hause ausschließlich oder zusätzlich noch eine andere Sprache als Deutsch. Der Anteil von Kindern mit ausländischer Staatsangehörigkeit, der in der Schulstatistik abgefragt wird und als ein Indikator für die Bedeutung von Zugewanderten in der Schule genutzt werden kann, liegt in der FIW ähnlich wie an öffentlichen Integrierten Gesamtschulen bei 11 Prozent, während er bei Waldorfschulen im Durchschnitt bei 3 Prozent liegt. Als anerkannte Privatschule erhält die FIW eine Basisfinanzierung des Landes, die durch Elternbeiträge und Spenden ergänzt wird. Es wird betont, dass Kinder unabhängig vom Einkommen der Eltern aufgenommen werden.
Gemeinsame Rituale
Rituale spielen eine große Rolle im Tages‑, Wochen- und Jahresverlauf. In der FIW gibt es wie in anderen Waldorfschulen eine ‚Monatsfeier‘, bei denen den Eltern die Lernfortschritte der Kinder präsentiert werden, allerdings findet dieses Ereignis nur einmal im Jahr statt. Darüber hinaus feiern und besprechen die Schüler*innen auch die Feste der unterschiedlichen Religionen, denen die Schüler*innen angehören. Das ist den Müttern wichtig, mit denen wir sprechen konnten. „Die Kinder können das dann verstehen – und nicht nur bei den Nachbarn sehen und nicht verstehen,“ sagt eine Mutter und erntet zustimmendes Nicken. Eine andere betont, dass die Schule den „kulturellen Mischmasch“ des Stadtteils wiederspiegelt. Hier können ihre Kinder, so die Mütter, „miteinander und voneinander lernen“.
Um nach der Schule Anerkennung in der Arbeitswelt zu erhalten, brauchen die Kinder reguläre Schulabschlüsse. Sie bereiten sich mit ihren Lehrkräften auf die Prüfungen vor, die von externen Prüfer*innen abgenommen werden. Ein Teil der Klasse wechselt an eine andere Waldorfschule in der Stadt, die auf das Abitur vorbereitet. Die übrigen streben nach der 12. Klasse entweder das Fachabitur oder einen mittleren Schulabschluss (Realschulabschluss) an. Letzterer wird an anderen Schulen in der Regel zwei Jahre eher erreicht. Die Mütter sehen es als Vorteil, dass der Abschluss erst später gemacht werden muss: „Die werden das ganze Leben noch genug gestresst.“ Wir erleben einige Schüler, die zwischen den schriftlichen und mündlichen Prüfungen ein praktisches Projekt durchführen. Sie gestalten und binden Bücher in einer kleinen Gruppe in entspannter Atmosphäre.
Mehr Zeit bis zum mittleren Schulabschluss
Dass eine Schule für alle regulär eine längere Bildungszeit bis zum Mittleren Schulabschluss vorsieht, könnte auch für Kinder und Jugendliche vorteilhaft sein, die erst spät ins deutsche Schulsystem einsteigen. Mehr Flexibilität und mehr Zeit könnte genutzt werden, um Jugendliche in einer Umstellungsphase zu stärken und Anschlüsse herzustellen, wenn das deutsche System andere Anforderungen stellt als das Herkunftssystem, oder wenn z.B. auf der Flucht Lücken in der Bildungsbiographie entstanden sind. Wenn also Schroeder und Seukwa darauf hinweisen, dass diskontinuierliche Bildungsbiographien eine „Dehnung“ der Bildungszeit erfordern, ist dies etwas, was in anerkannten Privatschulen aus anderen Gründen bereits geschätzt wird.[1]
[1] Schroeder, Joachim/ Seukwa, Louis Henri (2018): (Dis-)Kontinuitäten im Übergang. In: Dewitz, N. v./Terhart, H./Massumi, M. (Hrsg.): Neuzuwanderung und Bildung. Eine interdisziplinäre Perspektive auf Übergänge in das deutsche Bildungssystem. 1. Auflage. Weinheim: Beltz Juventa, S. 141–157.
Ein Beitrag von:
Dita Vogel
Senior Researcher, Organisatorische Leitung des Projekts TraMiS
Patience Amankwah
Studentische Hilfskraft im Projekt TraMiS