Schule im italienisch- und deutschsprachigen Bozen
Die junge Frau, der ich für diesen Blog den Namen Sara gebe, wohnt seit 5 Jahren in Bozen im italienischen Südtirol. Sara ist 19 Jahre alt und besucht die letzte Klasse des Realgymnasium Bozen (RGB). Vor ihrem Wechsel an die Oberschule ist sie in Albanien zur Schule gegangen. Saras Bruder hat damals bereits in Bozen gelebt und ihr erklärt, dass es dort deutsch- und italienischsprachige Schulen gibt. Er selber besuchte eine deutschsprachige Schule und war der Meinung, dass diese schwieriger seien und: „Schwierig ist besser“. So entschied sich auch Sara für eine deutschsprachige Schule. Die ersten fünf Monate hat sie sich fast ausschließlich auf Englisch unterhalten.
„Du denkst alle reden über dich, wenn du die Sprache nicht verstehst“, berichtet Sara über die erste Zeit auf der Schule. Eine Herausforderung für sie war es neben Hochdeutsch auch noch den Dialekt zu lernen, der außerhalb der Schule viel gesprochen wird. Sara spricht Albanisch, Deutsch, Englisch, Italienisch und ein bisschen Spanisch. Sie ist stolz darauf, ihre bisherige Schullaufbahn in Bozen absolviert zu haben, ohne eine Klasse wiederholen zu müssen, ganz zufrieden ist sie mit ihren Noten aber nicht. Nach ihrem Abschluss möchte Sara in Innsbruck Zahnmedizin studieren.
Mit Sara und anderen Schüler*innen, die erst seit ein paar Jahren oder Monaten die deutschsprachige Oberschule in Italien besuchen, konnte ich während meines Besuchs des Realgymnasium Bozen sprechen. Mich beeindruckten der Ehrgeiz der Schüler*innen und die vielen Sprachen, die sie sprechen.
Getrennte Schulsysteme
Die Stadt Bozen liegt in Südtirol (offiziell: Autonome Provinz Bozen), der nördlichsten Provinz Italiens. Das Schulsystem dort ist unterteilt in italienisch- und deutschsprachige Schulen. Nach einer fünfjährigen Grundschule besuchen alle Schüler*innen eine dreijährige Mittelschule, um dann auf ein Gymnasium, eine Fachoberschule oder eine berufsbildende Schule zu wechseln. Das Realgymnasium ist eine von 6 deutschsprachigen Oberschulen in Bozen.
Alle Kinder und Jugendliche – auch Neuzugewanderte – müssen sich zwischen einer italienisch- oder deutschsprachigen Schule entscheiden. In der Vergangenheit entschieden sich viele Zugewanderte, etwa aus Albanien, für italienischsprachige Schulen – in diesen ist der Anteil ausländischer Schüler*innen traditionell deutlich höher. Seit etwa 15 Jahren ist aber ein wachsender Zulauf neu zugewanderter Schüler*innen in deutschsprachige Schulen zu beobachten, so Peter Höllrigl, langjähriger Leiter des deutschen Schulamts der Provinz Bozen. Familien, die planen, in Südtirol zu bleiben, wissen, dass Deutsch eine wichtige Sprache in der Region ist, sodass sie sich bessere Chancen auf dem regionalen Arbeitsmarkt erhoffen. Für Einige ist Italien lediglich Transitland, sie planen weiter in den Norden, etwa nach Österreich oder Deutschland zu wandern – da stellt das Erlernen der deutschen Sprache in Italien eine gute Vorbereitung dar.
Perspektive deutschsprachiges Ausland
Für Schüler*innen können zukünftige Studienwünsche eine wichtige Rolle bei der Schulwahl spielen. Viele Schüler*innen des Bozner Gymnasiums berichteten, in Österreich oder Deutschland studieren zu wollen. Die Universität Innsbruck ist die größte Universität in Tirol und wird traditionell von vielen Schüler*innen der Region angewählt – auch von Neuzugezogenen. Besonders medizinische Studiengänge haben in Österreich und Deutschland einen guten Ruf, sodass sich neuzugewanderte Schüler*innen häufig für eine deutschsprachige Schule entscheiden, wenn sie in diesem Bereich studieren möchten. Aus Sicht der vor Ort befragten Expert*innen ist der Zuzug von Schüler*innen aus dem Ausland ein relativ neues Phänomen für deutschsprachige Schulen.
Ein Charakteristikum des italienischen Schulsystems ist der Grundgedanke von Inklusion – bereits in den 1970er-Jahren wurden Sonderschulen gesetzlich abgeschafft. Neuzugewanderte haben von Beginn ein Recht und auch die Pflicht eine Schule zu besuchen.
Inklusion im italienischen Schulsystem
Die Aufnahme von Schüler*innen aus dem Ausland wird dort mit verschiedenen Fördermaßnahmen begleitet, die sich teilweise bereits aus der jahrzehntelangen Tradition inklusiver Beschulung ergeben. So haben alle Schüler*innen das Recht auf einen individuellen Bildungsplan, der auch bei sprachlichen Barrieren das Arbeiten mit individuellen Lernzielen ermöglicht. Außerdem gibt es bereits seit den 1970er-Jahren Inklusionslehrkräfte, die das Lernen in heterogenen Gruppen unterstützen. Auch das Unterrichten in Teams oder das Aufteilen in kleine Lerngruppen wird am RGB praktiziert, da Ressourcen für Lehrer*innenstunden über die Regelstunden hinaus vorhanden sind. Letzteres wird dort auch baulich durch kleine zusätzliche „Ausweichräume“ ermöglicht (ähnlich der z.B. im inklusiven Schulsystem Bremens eingeführten Differenzierungsräume). Förderkurse in der Unterrichtssprache werden von sechs lokalen Sprachenzentren an Netzwerkschulen wie dem RGB organisiert. Neuzugewanderte Schüler*innen erhalten hier Deutsch- oder Italienischunterricht am Nachmittag. Auch Unterstützung durch sog. Interkulturelle Mediatoren (IKM), die auf Honorarbasis arbeiten, wird von den Sprachenzentren organisiert. Für den Einstieg in das neue Schulsystem erhalten Schüler*innen 20 Stunden Unterstützung durch IKM, die die Herkunftssprache der Schüler*innen sprechen, etwa für Beratung, bei der Einschreibung in die Schule oder bei der Leistungsstandfeststellung. Bei Bedarf können zusätzliche Stunden beantragt werden.
Hohe Leistungsanforderungen an dEN Oberschulen
Das erfolgreiche Absolvieren der Oberschule für Seiteneinsteiger*innen aus dem Ausland ist auch in Bozen nicht die Regel. Auch das inklusive Schulsystem in Italien schaffe es nicht, allen Schüler*innen einen guten Abschluss zu ermöglichen, außerdem gebe es eine hohe Abbrecher*innenquote an Oberschulen, so die Leiterin des „Kompetenzzentrums für Jugendliche mit Migrationshintergrund“ Inge Niederfriniger. Je später der Einstieg erfolge, desto größer sei die Hürde, in der verbleibenden Zeit die Unterrichtssprache zu erlernen und die hohen Leistungsanforderungen zu erfüllen. Eine gelingende Schulintegration hänge stark vom persönlichen Engagement der Schüler*innen und ihrer Familien ab. Der Anteil ausländischer Schüler*innen an Oberschulen ist geringer als an Mittelschulen, die alle Schüler*innen besuchen. Schüler*innen „mit Migrationshintergrund“ würden deutlich häufiger die berufsbildenden Zweige besuchen, so Peter Höllrigl. Zumindest das Ziel, die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen in Beschäftigung zu bringen, werde erreicht, betont der ehemalige Schulamtsleiter und verweist auf die geringe Arbeitslosenquote der Provinz Bozen.
Zu dieser Forschungsreise ist ein detaillierter Bericht in Form eines Arbeitspapiers erschienen:
(Transnationale) Mobilität in einer mehrsprachigen Region. Eine explorative Studie an einem deutschsprachigen Gymnasium im italienischen Bozen (Dittmer)
Ein Beitrag von:
Torben Dittmer
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt TraMiS