Wie funktioniert inklusive Interkulturalität? Das Konzept des „Peaceful Village” an der Gordon Bell Highschool in Winnipeg (Kanada)
Peaceful Village, cross-cultural programme – die Gordon Bell High School in Winnipeg/ Kanada wirbt mit der Vielfalt von Lernerfahrungen, die sie ihren Schüler*innen auf dem Weg zum Schulabschluss ermöglicht. Die Schule in der Provinz Manitoba liegt zwischen einem wohlhabenderen und einem von Armutslagen geprägten, größtenteils von Immigranten und Angehörigen der First Nations bewohnten Stadtviertel. ‚First Nations‘ werden die Menschen genannt, deren Vorfahren schon lange vor der europäischen Kolonisierung Kanada besiedelt haben.
Bei einem Schulbesuch im Oktober 2019 konnten wir, Yasemin Karakaşoğlu, zusammen mit Dita Vogel Projektleitung von TraMiS und Praktikantin Alara Günel Einblicke erhalten, wie die Schule ihre Konzepte praktisch umsetzt.
Frei-Raum für die umfassende Berücksichtigung von Vielfalt und eine ausgeprägte Willkommenskultur
Doch zunächst einmal zu den ‚Kerndaten‘ der Schule. Es handelt sich um eine barrierearme, inklusive öffentliche Schule, die alle Bildungsgänge bis zum High School Diploma anbietet. Sie umfasst die Klassenstufen 7–12 und hat aktuell 700 Schüler*innen. 50 Lehrer*innen und 40–50 Education Assistants (EA) sind darum bemüht, immer im Team-Teaching die vielen pädagogischen Angebote der Schule, die individuell auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Schüler*innen ausgerichtet sind, umzusetzen.
Der Schulleiter beschreibt die Zusammensetzung der Schülerschaft als 40 Prozent „First nations“, 30 Prozent „newly arrived“ und 30 Prozent ansässige Bevölkerung, die er als „established“ bezeichnet. Die Bezeichnung „newly arrived“ gilt, so der Schulleiter, für Schüler*innen, die vor 5 Tagen bis 5 Jahren nach Winnipeg als Schüler*innen mit zunächst wenig bzw. keinen Englischkenntnissen zugezogen sind und fachliche Unterstützung im Erwerb des Englischen als Zweitsprache benötigen und über diesen, im Vergleich mit Deutschland langen Zeitraum auch erhalten.
Das Gebäude der Schule ist ein funktionaler L‑förmiger Flachbau über zwei Stockwerke. Über einen großen, vorgelagerten Sportplatz kommt man zum bescheidenen Haupteingang, hinter dem uns ein freundlich-heller Flur erwartet. Der hellblaue Linoleum-Fußboden wirkt sehr gepflegt, an den Pinnwänden, die überall im Eingangsbereich angebracht sind, informieren für uns auffällig viele Plakate und Aushänge über die vielfältigen ‚Student Services‘, also Unterstützungs- und Förderangebote für Schüler*innengruppen mit den unterschiedlichsten Belangen, etwa spezielle Empowerment-Kurse für Angehörige der First Nation, für Schwarze, für Mädchen, gegen Islamophobie etc. Über der breiten Glasscheibe, die den Blick auf das Sekretariat und Lehrer*innenzimmer in für uns ungewohnter Transparenz frei gibt, ist ein weithin sichtbarer, schwarz-weißer Schriftzug ‚Welcome‘ angebracht. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass dieser sich aus Willkommen in allen möglichen Sprachen der Welt zusammensetzt.
Jedes Mitglied der Schulgemeinschaft zählt im ‚Friedvollen Dorf‘
Vinh Huynh, der Schulleiter, ist selbst als Kind einer Flüchtlingsfamilie aus Hong Kong nach Winnipeg gekommen. Er empfängt uns geschäftig und freundlich in seinem Büro, das über und über mit Auszeichnungen von Schüler*innen und weiteren Gegenständen dekoriert ist, die aus unterschiedlichen Regionen der Welt zu stammen scheinen. Es handelt sich dabei, so Vinh, um Geschenke der Schüler*innen und Kolleg*innen. Indem er diese in seinem Büro ausstellt, möchte er ihnen gegenüber Wertschätzung ausdrücken, betont er. Diese Haltung der Achtung gegenüber allen Mitgliedern der Schule, die auch sichtbar sein soll für alle, ist – so scheint uns – kennzeichnend für diese Schule, die man im deutschen Bildungsdiskurs als ‚Schule in schwieriger sozialer Lage‘ bezeichnen würde. Doch dem Schulleiter kommt keine Klage über die Probleme über die Lippen. Schiere Begeisterung für seine Aufgabe spricht aus seinen Worten, die Schule als friedlicher Ort inmitten eines Wohnviertels, das aufgrund von Gang-Kriminalität viele Gefährdungen für junge Menschen bereithält, aufzubauen. Viel ist die Rede von der mentalen und körperlichen Gesundheit der Schüler*innen, ihren Bedürfnissen und dem Wunsch des Schulleiters, dass sie sich an der Gordon Bell gestärkt, wohl und zuhause fühlen. Das symbolisiert auch das Wappentier der Schule, der Panther. Panther-Pride definiert sich darüber, dass alle danach streben – wie es im Schulmotto heisst – „Respectful – Open Minded – Curious – Knowledgeable – Active – Resilient – Caring“ zu sein. Damit soll die Schule zum ‚Peaceful Village‘ – zum friedlichen Dorf – werden.
Peaceful Village heißt nicht nur das Resilienz fördernde, von der Provinzregierung ausgezeichnete Programm der Schule. ‚Peaceful Village‘ steht auch über einem großen Mehrzweck-Sozialraum, der den Mittelpunkt dieses inzwischen die Grundidee der Schule repräsentierenden Projektes darstellt. Er steht den Schüler*innen auch nach Unterrichtsschluss von 15.30 bis 19 Uhr offen, betreut durch den „Intercultural Support Worker“ Odik Obap, der sich insbesondere um Neu-Zugewanderte und ihre Familien kümmert. Elf von der Schulbehörde angestellte Intercultural Support Workers, die alle unterschiedliche Sprachen sprechen, gibt es in Winnipeg. Sie haben eine Haupteinsatzschule von der aus sie auch interkulturelle Vermittlungsarbeiten zwischen Schule und Elternhäusern entsprechender unterschiedlicher Herkünfte in anderen Schulen wahrnehmen. Während die Mehrzahl der Angebote der Gordon Bell durch öffentliche Zuweisungen möglich ist, werden einige zusätzliche Angebote des friedvollen Schuldorfs vor allem durch eingeworbene Mittel ermöglicht.
Inklusive Interkulturalität – Wie geht das?
Auf unserem Rundgang mit dem Schulleiter kommen wir aus dem Staunen nicht heraus: Da ist ganz selbstverständlich ein Gebetsraum für muslimische Schüler*innen, eine Kinderkrippe, in die Schüler*innen ihre Kinder während des Unterrichts zur Betreuung geben können, ein „home based learning“ genannter Raum für Kinder indigener Bevölkerungsgruppen, von denen einige aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung mit Zwangsbeschulung ihrer Kinder in Internaten ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Schulen entwickelt haben. Der Raum ist besonders gemütlich ausgestattet, eine kleine Gruppe von Schüler*innen unterschiedlicher Altersgruppen wird von zwei Pädagog*innen betreut. Es gibt einen „Community Culture Room“ und allen Klassenräumen angeschlossene Differenzierungsräume für besondere Bedarfe geistig und körperlich behinderter Schüler*innen.
Diese Räume waren nicht alle von Anfang an vorhanden. Vor einigen Jahren hat die Schule den Schwund der Schüler*innenzahl von ursprünglich 1000 auf die heutige Zahl dafür genutzt, die frei gewordenen räumlichen Kapazitäten für die verschiedensten pädagogischen Aktivitäten der Schule umzugestalten.
Mitten im Gebäude ist zudem ein für alle zugänglicher Bereich, in dem schwerstbehinderte Kinder beschult werden. Sie bekommen hier unter fachlicher Betreuung die besondere Unterstützung, die sie brauchen, aber können sich von hier aus z.B. mit speziellen Dreirädern im gesamten Schulgebäude bewegen und alle klassenübergreifenden Schulveranstaltungen, wie das Feiern von Festen oder der Besuch von Aufführungen, werden mit ihnen gemeinsam durchgeführt. Inklusion wird an der Gordon Bell High School also durchaus mit Bezug auf unterschiedliche Konzepte im gleichen Gebäude umgesetzt. Denn auch hier gilt das Prinzip der Orientierung an den individuellen Bedürfnissen der Schüler*innen. Es versteht sich von selbst, dass es an dieser Schule, wie auch an den anderen von uns besuchten Schulen in Winnipeg und Toronto ‚All Gender Washrooms‘ gibt und mit der LGBTQI-Flagge im wahrsten Sinne des Wortes auch ‚Flagge gezeigt‘ wird gegenüber der Vielfalt sexueller Orientierungen.
Es gibt außerdem eine Schüler*innenfirma, eine Fahrradreparaturwerkstatt, einen Raum für den Students‘ Council etc. Die Schule verfügt zudem über eine weiträumige, Licht durchflutete Bibliothek mit verschiedenen, besonders ausgewiesenen Arbeitsbereichen für Stillarbeit, für Gruppenarbeit, Computerarbeitsplätze und gemütliche Leseecken. Alles ist einladend und freundlich eingerichtet. Die betreuenden Pädagog*innen und das sonstige Personal begegnen den Schüler*innen und uns mit großer Freundlichkeit und Offenheit. Ein Community Support Worker – eine Art Sozialarbeiter, der für den Kontakt zu Familien, Vereinen und anderen Organisationen des Viertels zuständig ist – berichtet uns über das Projekt der Schulfarm, in das mittlerweile 214 Familien der Schüler*innen eingebunden sind. Aktuell gibt es Pläne für einen eigenen Marktstand, an dem die Erzeugnisse aus der schuleigenen Landwirtschaft, in die sich insbesondere zugewanderte Eltern aus ländlichen Gebieten mit ihren Kompetenzen einbringen, verkauft werden sollen.
Das Wissen der Indigenen inkludiert
Im pädagogischen Programm der Schule wird dem Wissen der indigenen Bevölkerung ein hoher Stellenwert eingeräumt. Seit im Jahr 2007 die „Truth and Reconceliation Commission“ ihre Arbeit aufgenommen hat, um die Verbrechen an der indigenen Bevölkerung Kanadas aufzudecken und Maßnahmen zur Aussöhnung zu entwickeln, sind alle kanadischen Schulen dazu angehalten, das Wissen der First Nations wertschätzend zu berücksichtigen. In der Gordon Bell’s bildet der indigene ‚Circle of Courage‘ die ethische Grundorientierung für die Schule und insbesondere das Peaceful Village. Im Zirkel des Muts, mit dem auch alle Neu-Zugewanderten als gemeinsame Handlungsgrundlage unmittelbar vertraut gemacht werden, geht es um den Aufbau Resilienz fördernder Beziehungen auf vier Ebenen: 1. Beziehungen zu den eigenen Glaubensvorstellungen und Werten, 2. Beziehungen zur eigenen Identität und dem Kontext, in dem man aufwächst, 3. Beziehungen untereinander und 4. Beziehungen mit dem Wasser und dem Land.
Vinh fasst sein Motto für die Leitung dieser Schule wie folgt zusammen: „Inklusion, Erfolgsmonitoring, Engagement, Zusammenarbeit und Verständnis, darauf fußt unsere Arbeit hier an der Gordon Bell. Und das bedeutet, gleiches und respektvolles Engagement für jede Art von schulischem Lernen, die wir anbieten“.
Off-Campuses für einen frischen Start
Dieses Prinzip ist auch der Grund dafür, dass einige Schüler*innengruppen in Schulgebäuden außerhalb des Hauptcampus betreut werden. In den vier ‚Off ‑Campuses‘ werden Schüler*innen in speziellen ‚Lerncommunities‘ mit sehr flexiblen, individuellen Stundenplänen unterrichtet. Die Programme nennen sich ‚Fresh Start‘ und sind darauf ausgerichtet, all denjenigen einen Abschluss zu ermöglichen, die aus dem Regelsystem aus unterschiedlichen Gründen herausgefallen sind. Sie richten sich z.B. an junge Mütter, die als Sexarbeiterinnen ausgebeutet wurden und das Angebot des Hauptcampus, dort zu lernen und ihre Kinder in die Obhut der schuleigenen Kinderkrippe zu geben, nicht nutzen können oder wollen, oder junge Männer ohne Schulabschluss, die diesen vom 19. bis 29. Lebensjahr nachholen können oder Schüler*innen mit Angststörungen, die in einem großen Schulgebäude mit vielen Menschen verloren wären. Es seien vor allem indigene Schüler*innen, die in diesen pädagogischen Spezialprogrammen der Off Campuses in einer besonders günstigen Lehrer*innen-Schüler*innen-Konstellation betreut würden. Es sind Schulformen, die eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung anbieten, die Schule soll als Ort verstanden werden, der immer einen Neustart ermöglicht und ein Rückzugsort von den Zumutungen des Alltags darstellt. Vinh: „Ein Teil unserer Arbeit ist, dass wir die Botschaft vermitteln: Du kannst immer zu uns zurückkommen“.
Neuzuwanderung und Internationalität – zwei Gesichter einer globalen Herausforderung
Kompetenz in der individuellen Förderung beweist die Schule auch bei Angeboten für Neu-Zugewanderte. Sie ist einer von vier Stützpunkten des Schulbezirks Winnipeg für diese Schüler*innengruppe. Für diese gibt es eigenes ausgebildetes Lehrpersonal und Einstiegsklassen für das Erlernen von Englisch als Unterrichtssprache, wobei in Minnesota Neuzugewanderte auch Indigene aus den Northern Territories sein können, die eine oder mehrere indigene Sprachen sprechen, aber kein Englisch. Sie werden nach Stand ihrer Englischkenntnisse eingestuft und gemäß ihrer spezifischen Kompetenzen auch in andere Fächer integriert. Gordon Bell ist auch technisch bestens ausgestattet, wobei das Motto gilt: „high tech – high touch“. Ebenso wichtig wie die High-Tech-Ausstattung (alle Räume sind mit Beamern ausgestattet, es wird Google-Classroom als didaktisch unterstützende Software eingesetzt) ist die Fähigkeit, mit ihr unmittelbar umgehen zu können.
Seit zwei Jahren nimmt die Schule zudem am kanadischen Programm der Öffnung staatlicher Schulen für zahlungskräftige internationale Gäste teil. So können internationale Schüler*innen, die eine Auslandsschulerfahrung oder sogar einen kanadischen Abschluss machen wollen, für 12.000 Kanadische Dollar jährliches Schulgeld an den Angeboten der Schule teilnehmen, aktuell sind dies 11 solcher Schüler*innen aus aller Welt. Vinh sieht das kritisch, denn eine solche globale Vermarktung von interkultureller Bildung entspricht eigentlich nicht seinem pädagogischen Selbstverständnis. Zugleich zeigt die Akzeptanz des Programms, dass Inklusion und Interkulturalität nicht ausschließlich unter der Perspektive der Benachteiligtenförderung betrachtet werden müssen, sondern auch Akzeptanz als attraktives Bildungsangebot im globalen Wettbewerb erlangen können.
Ein Beitrag von:
Yasemin Karakaşoğlu
Leitende Professorin des Arbeitsbereichs Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen, Inhaltliche Gesamtleitung des Projekts TraMiS
Alara Günel
Praktikantin